Immer noch wütend starrte Thomas Jonathan hinterher, bis der außer Sicht geriet. Endlich war er weg!
Warum fühlte er sich dann jetzt nicht besser?
Bewusst entspannte er die zu Fäusten geballten Hände und atmete durch. Die Wut, die er bei Jonathans Worten empfunden hatte, klang nur langsam wieder ab.
Er dachte nicht gerne über seine Gründe, andere Menschen zu meiden, nach. Die Erinnerung tat weh. Aber warum hatte er so heftig auf die Frage reagiert?
Üblicherweise ging er Konflikten einfach aus dem Weg, doch wäre Jonathan am Ende ihres Gesprächsversuchs nicht gegangen, hätte er sich vielleicht mit ihm geprügelt. War er durch die vielen einsamen Monate hier oben noch empfindlicher geworden? Oder hatte er seine Erfahrungen so erfolgreich verdrängt, dass er die fragile heile Welt, die er sich aufgebaut hatte, schon bei der kleinsten Bedrohung aggressiv verteidigte?
Frustriert stieß er die Luft aus und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Er musste sich mit irgendetwas beschäftigen, um sich zu beruhigen.
Er holte die Schnitzutensilien und setzte sich vor die Hütte. Wenn seine Hände beschäftigt waren, konnte er sich meist entspannen und in Ruhe über die Dinge nachdenken, die ihn belasteten.
Er nahm ein neues Stück Holz aus dem Sack, betrachtete es eingehend, entschied sich dafür, wo bei der nächsten Figur vorne und hinten, oben und unten sein würden, und setzte die ersten Schnitte.
Dann gestattete er seinen Gedanken, zu treiben.
Jonathans Behauptung, er wolle sein Freund sein, musste natürlich eine Lüge sein. So etwas sagten Leute immer, um einen in Sicherheit zu wiegen, um Schwächen oder Geheimnisse zu entdecken, die sie später gegen einen verwenden konnten. Das war bei Gestaltwandlern gewiss genau wie bei Menschen!
Wütend führte er das Messer energischer, erhöhte den Druck, entfernte grob die nicht benötigten Teile des Holzes.
Er war wütend auf diesen Jonathan, der sich erdreistet hatte, hierher zu kommen und sein Weltbild durcheinanderzubringen.
Ihn auf Dinge anzusprechen, über die er nicht nachdenken wollte.
Ihm seinen Wolf wegzunehmen.
Das war das Schlimmste. Etwas, das er ihm nicht verzeihen würde. Er hatte ihm seinen Wolf weggenommen.
Endlich, nach so langer Zeit, hatte er jemanden gefunden, der ihn akzeptierte, wie er war, der in ihm nicht nur den ehemaligen Soldaten sah, von dem man behauptete, er würde sich irgendwie falsch verhalten. Es war völlig gleichgültig, wie oft er den wahren Sachverhalt schilderte – ein Rest Zweifel blieb immer haften. Und dieser Zweifel nagte an jedem, der ihn kannte, nistete sich in deren Köpfen ein und zerstörte nach und nach ihr Vertrauen in ihn – und damit auch sein Vertrauen in sich selbst. Und das spürten sogar die Leute unten im Dorf, die nichts über ihn wussten.
Nur der Wolf war ihm völlig unvoreingenommen gegenübergetreten, und bei einem Tier hatte er geglaubt, dass es auch so bleiben würde. Endlich hatte er sich wieder ohne Vorbehalte angenommen gefühlt.
Vielleicht sollte er sich einen Hund kaufen.
Nein. Er hatte immer gespürt, dass seine Freundschaft mit dem Wolf etwas Ungewöhnliches war. Er hatte es darauf geschoben, dass er es nicht mit einem Haus-, sondern ein Wildtier zu tun hatte. Aber was, wenn es vielmehr daran gelegen hatte, dass der Wolf ihn verstand, mehr war, als es den Anschein hatte? Ein Gestaltwandler ... der Gedanke faszinierte ihn immer mehr.
War es wirklich möglich, dass sein unvoreingenommener wölfischer Freund, der ihm stundenlang zugehört hatte, der Zeit mit ihm verbracht, ihn getröstet, gewärmt und ihm vertraut, ihn sogar versorgt hatte, in dem Menschen Jonathan steckte?
Er hatte die Möglichkeit, dass jemand ihm offen begegnen könnte, schon lange nicht mehr in Betracht gezogen und jeden gemieden, der in seine Nähe kam – auch Jonathan. Dass der ihm das Geheimnis seines Wandelwesens offenbart hatte, war ein Vertrauensvorschuss, den er sich mit seinem Verhalten ihm gegenüber keinesfalls verdient hatte. Dennoch hatte Jonathan es gewagt, ohne ein Druckmittel gegen ihn in der Hand zu haben.
Sprach das nicht eigentlich dafür, dass Jonathan seine Worte ernst meinte?
‚Keine Sorge, ich werde dich nicht weiter belästigen.‘
Ja, er hatte sich belästigt gefühlt von dem Mann, der ohne Anlass dahergelaufen kam und darauf bestand, ihn kennenzulernen. Andere hatten das auf diese Art und Weise auch schon versucht, und obwohl seitdem viel Zeit vergangen war und sich vermutlich niemand mehr für ihn interessierte, war er immer noch misstrauisch.
Von dem Wolf hatte er sich allerdings nie belästigt gefühlt. Er vermisste ihn sogar.
Der Mensch Jonathan war ihm hingegen zu aufdringlich, zu drängend, zu neugierig. Warum setzte er Thomas so unter Druck?
‚Ich würde dir gerne mal antworten können.‘
Nun gut. Für Jonathan war das nicht ihr erstes wirkliches Zusammentreffen gewesen. Das könnte dessen ungeduldiges Verhalten zumindest relativieren. Doch es war keine Entschuldigung dafür, Thomas so zu bedrängen.
Oder war er diesbezüglich zu empfindlich geworden?
Nein. Er hatte Geduld und Verständnis genauso verdient wie jeder andere, dessen Welt gerade auf den Kopf gestellt worden war.
‚Ich habe dir mein Vertrauen geschenkt, dich in mein Geheimnis eingeweiht, und alles, was ich wollte, war ein einfaches Gespräch.‘
Thomas schnaubte. Er hatte nie darum gebeten, in Jonathans Geheimnis eingeweiht zu werden! Die Gesellschaft des Wolfs hätte ihm voll und ganz gereicht! Auf das Wissen, dass er einem wildfremden Mann einige seiner intimsten Gedanken preisgegeben, vertraut an ihn geschmiegt vor der Hütte gesessen hatte, dass der ihm das Gesicht abgeleckt und ohne sein Einverständnis einzuholen nachts in sein Bett gekommen war, hätte er gerne verzichtet!
Oder handelte Jonathan in seiner Wolfsgestalt wie ein Wolf? War das Ablecken und Kuscheln Teil des normalen wölfischen Verhaltens? Durfte er die Aktionen des Mannes und die des Wolfs überhaupt gleich bewerten?
Er hätte ihn das fragen können – wenn er mit ihm gesprochen hätte. Er hätte ihn all die Dinge fragen können, die ihm nun durch den Kopf schossen: Wie viele Gestaltwandler gab es? Wie funktionierte das mit der Verwandlung? Was konnten sie alles sein? Warum hatte Jonathan ihn in das Geheimnis eingeweiht? Wie viele Menschen wussten von ihrer Existenz? Wusste es die Regierung? Das Militär? Waren sie eine große Gemeinschaft oder lebte jeder Gestaltwandler für sich?
‚Doch selbst das willst du nicht, meine Freundschaft schon gar nicht. Denk mal drüber nach – wenn du jeden abweist, der dich mag, findest du nie wieder Gesellschaft.‘
Nachdenklich hielt er in seinen Bewegungen inne, lockerte den Griff um das Messer.
Ja, er hatte die Ruhe hier gebraucht. Aber wünschte er sich diese Einsamkeit wirklich für immer? Was, wenn es stimmte, und er neue Bekanntschaften machen könnte, Leute, die ihn akzeptierten, wie er war? Menschen – oder Gestaltwandler?
Sie waren, wie er, anders als der Großteil der Gesellschaft. Verbargen sie sich vor der Welt, weil sie aufgrund der Andersartigkeit abgelehnt wurden, niemand sie anhören und verstehen, geschweige denn um sich haben wollte?
Erschüttert ließ er das Messer sinken. Er machte mit Jonathan genau das, wofür er andere so verurteilte: Er hatte ihn abgelehnt, weggeschickt, ohne ihm eine echte Chance zu geben. Jonathans Art mochte für Thomas ungewohnt und anstrengend sein, doch er sollte wenigstens einmal in Ruhe mit ihm reden – herausfinden, ob sein wölfischer Freund vielleicht doch auch in diesem Menschen steckte.
Er sah auf das Stück Holz hinab, das seine Hände bearbeitet hatten. Es war noch lange nicht fertig, aber die Grundform ließ sich bereits erkennen.
Es würde wieder ein Wolf werden.
Sein Wolf.
Er musste unbedingt noch einmal mit Jonathan reden.