Auch diesen Mittwochvormittag betrat Thomas wieder pünktlich Lukas‘ Laden, um einige neue Schnitzereien vorbeizubringen. Schon drei Wochen währte die Vereinbarung, die sie getroffen hatten, und sie waren beide sehr zufrieden damit.
„Guten Morgen, Herr Hirschberger“, grüßte Thomas freundlich.
Der erwiderte das höfliche Nicken. „Ebenfalls. Was bringen Sie mir heute mit, Herr Hessel?“
Thomas schmunzelte innerlich. Er hatte sich immer noch nicht an diese Anrede gewöhnt, selbst nach über zwei Jahren. Dass der Ladeninhaber ihn inzwischen auf diese höfliche Art ansprach, freute ihn allerdings. Es war ein kleiner Fortschritt in seinem Bemühen, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern.
Statt einer Antwort holte Thomas die mitgebrachten Figuren aus dem Rucksack und breitete sie vor Lukas aus, der sie sorgfältig begutachtete.
„Ah – wie schön. Bislang waren mir persönlich ein bisschen zu viele Wölfe dabei gewesen. Das hier ist vielfältiger.“ Lukas drehte jede Schnitzerei in den Händen, legte einen Verkaufspreis fest und notierte diesen auf einer Liste.
„Man darf nicht ewig stehenbleiben“, antwortete Thomas gelassen. Innerlich aber schmerzte ihn Lukas‘ Feststellung. Doch der hatte Recht – inzwischen beschäftigte Thomas sich auch mit vielen anderen Tiergestalten, und das nicht nur, um möglichst viele Geschmäcker zu treffen.
Vierundzwanzig Tage waren vergangen, seit Jonathan abgereist war, und er hatte sich nicht wie versprochen gemeldet. Langsam überkamen Thomas Zweifel, ob er das überhaupt tun würde. Hatte er vom Rudel eine Absage bekommen, sich aber nicht getraut, es zu sagen? Hatten er und sein Bruder das Haus von dort aus verkauft, wo sie lebten? War ihm etwas zugestoßen? Oder hatte er ihn schlicht vergessen?
Was auch immer es war, Thomas konnte nichts daran ändern. Er war Jonathan dankbar, dass der ihn aus seiner stumpfen Einsiedelei geholt hatte – darauf sollte er sich konzentrieren, auf das Positive. Sein Leben war ein bisschen weniger langweilig. Und noch hatte er die Hoffnung, dass Jonathan sich noch melden würde, nicht ganz aufgegeben.
Lukas war fertig und reichte Thomas die Liste, damit der sich davon überzeugen konnte, dass die festgelegten Preise gerechtfertigt waren. Dann holte Lukas einen Umschlag unter dem Tresen hervor.
„Hier ist das Geld der letzten Verkäufe, wie abgemacht. Die Schlange ist immer noch besonders begehrt – vielleicht sollten sie noch ein paar davon machen.“ Lukas hatte die Blindschleiche selbst behalten und im Schaufenster zusammen mit ein paar anderen Figuren ausgestellt.
Thomas lächelte und steckte den Umschlag ein, ohne das Geld nachzuzählen. Lukas war zwar ein gerissener Geschäftsmann, aber betrügen würde er ihn nicht.
„Das geht nicht, Herr Hirschberger. Ich kann nur das schnitzen, was das Holz hergibt. Aus einem geraden Ast kriegt man so was nicht raus.“
Lukas hob einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. „Nun gut. Aber Rehe gehen doch, oder? Die finden auch viele ganz toll. Davon könnte ich problemlos noch mehr verkaufen!“
„Ich sehe, was sich machen lässt“, versprach Thomas und schulterte seinen leeren Rucksack. Das Schnitzen brauchte Zeit, und er hatte auch nicht immer Lust dazu. Bislang brachte Thomas vor allem die Figuren in den Laden, die sich in den letzten Monaten bei ihm angehäuft hatten, aber das musste Lukas ja nicht wissen.
„Bis nächste Woche dann!“ Einkaufen musste Thomas heute nicht und wandte sich daher zum Gehen.
Er war schon einige Meter weit gekommen, als hinter ihm die Ladentür aufgerissen wurde.
„Herr Hessel!“, ertönte Lukas‘ Stimme hinter ihm. Neugierig drehte Thomas sich um und sah dem Ladeninhaber entgegen, der hastig auf ihn zugelaufen kam.
„Das hätte ich fast vergessen“, schnaufte er, als er bei ihm ankam. Ohne weitere Erklärung drückte er Thomas einen zweiten Briefumschlag in die Hand und drehte sich grußlos um, um zurück zu seinem Laden zu eilen.
Verblüfft sah Thomas ihm kurz nach, dann auf den DIN-A5-großen, offenen Umschlag in seiner Hand. Als er ihn kippte, kamen ihm ein einzelnes Blatt und ein weiterer, kleinerer Umschlag entgegen.
Neugierig entfaltete er den Bogen und las.
Lieber Lukas,
wie geht es dir? Wir sind mit dem Hausverkauf immer noch nicht sehr viel weiter gekommen.
Darf ich dich als Postbote benutzen? Der Mann, der in der Hütte oben in den Bergen wohnt, kommt doch regelmäßig zu dir zum Einkaufen. Könntest du ihm den beiliegenden Umschlag von mir geben? Er heißt Thomas, mehr weiß ich leider auch nicht.
Im Voraus vielen lieben Dank für deine Hilfe!
Jonathan
Unwillkürlich hoben sich Thomas‘ Mundwinkel. Jonathan hatte ihn nicht vergessen! Er hatte ihm sogar ziemlich viel geschrieben, wenn man bedachte, wie dick der kleinere Umschlag in seiner Hand war. Das Grinsen auf Thomas‘ Gesicht wurde immer breiter, je länger er den verschlossenen Brief betrachtete. Sollte er ihn gleich öffnen, hier auf der Straße? Oder im Park? Nein, er würde sich Zeit nehmen, zuhause. Es eilte ja nicht – er konnte ohnehin nicht sofort antworten.
Antworten!
Entschlossen steckte Thomas den Brief in seinen Rucksack und ging zum Laden zurück. Er brauchte Papier und einen halbwegs passablen Stift.
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Die Sonne stand nur noch knapp über den Berggipfeln, als Thomas den Brief schmunzelnd weglegte. Die vielen Informationen machten den Abend deutlich weniger langweilig, und Thomas freute sich, neue Dinge zu haben, über die er nachdenken konnte. Erst jetzt wurde ihm so wirklich klar, wie einsam er hier oben war und wie sehr ihm Abwechslung eigentlich fehlte.
Dieser Matthias schien ja ein echter Chaot zu sein – mit einem guten Herzen. Er erinnerte ihn ein bisschen an Sam, einen Franzosen, mit dem er sich auf einem Auslandseinsatz angefreundet hatte. Der hatte seine freie Zeit auch mit Vorliebe mit Videospielen gefüllt – aber wenn man mal mit ihm redete, offenbarte er oft sehr tiefgründige Gedanken. Jetzt, da er wieder an ihn dachte, vermisste Thomas Samuel sehr. Sie hatten einander auf Anhieb gut leiden können und hatten viel Zeit miteinander verbracht, sich auch gegenseitig besucht, wenn sie nicht irgendwo im Einsatz waren. Bis Sam eines Tages nicht mehr nach Hause gekommen war. Seitdem hasste Thomas Sprengfallen noch mehr als ohnehin schon.
Rasch lenkte Thomas seine Gedanken wieder auf die Dinge, die er gelesen hatte.
Mareike klang richtig nett. Kinfolk – wie er also. Den Begriff „Kinfolk-Crashkurs“, den sie ihm laut Jonathan verpassen wollte, fand Thomas nicht nur lustig, sondern auch äußerst treffend. Vermutlich brauchte er den wirklich! Wenn sie Jonathans beste Freundin war, würde sie alles sicherlich gut erklären.
Wobei Thomas sich eingestehen musste, dass er beinahe lieber deren Freund Mike mit irgendwelchen Sachen am Haus helfen würde – er liebte es, etwas mit eigenen Händen zu erschaffen oder zu reparieren. Doch der Crashkurs war natürlich wichtiger.
Thomas konnte es kaum erwarten – er würde tatsächlich in diese verrückte, für ihn völlig neue Welt eintauchen dürfen!
Dass Sebastian sich seltsam verhielt, stand mehr zwischen Jonathans Zeilen als tatsächlich darin. Es beunruhigte Thomas – lag das möglicherweise an ihm? Hätte er bei ihrer hitzigen Diskussion am Gartentor etwas zurückhaltender sein sollen? Sebastian mochte ihn nicht besonders, das hatte er längst erkannt, doch er verstand nicht genau, woran das lag. Ob er etwas tun konnte, um dieses wie auch immer geartete Problem aus der Welt zu schaffen? Immerhin hing sein Zugang zum Rudel offenbar zu einem großen Teil von Sebastians Wohlwollen ab.
Jonathan hatte nie Begriffe wie Rudel, Leitwölfe oder solcherlei Dinge benutzt, doch wenn Thomas alles richtig interpretierte, war Sebastian der Stellvertreter der Leitwölfin – falls diese Bezeichnung korrekt war. Thomas musste noch so viel lernen ... unter anderem, ob er Sebastian irgendwie beleidigt hatte. Ausgerechnet den Vize-Rudelführer – damit hätte er zielsicher eins der vermutlich größten Fettnäpfchen getroffen, die es gab!
Aber trotz Sebastians Abneigung würde der beim nächsten großen Rudeltreffen für Jonathan um Erlaubnis bitten, Thomas für ein unverbindliches Kennenlernen zum Rudel holen zu dürfen. Dass das der Genehmigung der Anführerin bedurfte, hätte er nie vermutet. Im Nachhinein erschien es jedoch logisch: Die Werwölfe hielten sich bedeckt, da war Besuch sicherlich ein ungewöhnliches Ereignis.
Thomas war froh, dass schon der nächste Vollmond an einem Wochenende stattfand, denn offenbar wurden nur dann die großen Rudeltreffen abgehalten. Das bedeutete, schon nächste Woche würde Jonathan wieder schreiben und berichten, ob Thomas das Rudel kennenlernen durfte – er konnte es kaum erwarten!
Im Geiste entschuldigte er sich bei Jonathan, ihm unterstellt zu haben, er hätte ihn vergessen. Der Brief umfasste viele Seiten, war über mehrere Wochen hinweg geschrieben worden. Allein das freute Thomas schon – das Wissen, dass es jemanden gab, der an ihn dachte, hatte ihm mehr gefehlt, als er sich bewusst gewesen war.
Und dann erzählte Jonathan in den zahlreichen Absätzen von so vielen Kleinigkeiten und lustigen Details, Eigenheiten von Rudelmitgliedern und Anekdoten, ernsten Überlegungen und wichtigen Zusammenhängen – man spürte, dass er ihre wenigen Gespräche genauso vermisste wie Thomas.
Er lächelte – es war schön, wieder einen Freund zu haben, mit dem man sich stundenlang unterhalten konnte. Auch das hatte ihm mehr gefehlt als er sich eingestanden hatte. Vielleicht sollte er sich ein Mobiltelefon kaufen ... Gab es nicht Akkus, die man mittels Solarenergie aufladen konnte?
Der Mond, der selbst bei Tag gut zu erkennen war, schob sich langsam über die höchsten Gipfel und präsentierte sich der Welt in seiner vollen Pracht. Er war bereits fast rund – es konnten nur noch ein, zwei Tage bis Vollmond sein.
Thomas lächelte versonnen. Er hatte den Anblick des Mondes schon immer geliebt und unglaublich viel nutzloses Wissen über ihn angehäuft. Doch seit ungefähr einem Monat hatte er noch eine weitere Bedeutung: Er ließ Thomas an die Werwölfe denken. An das Rudel, das er hoffentlich bald kennenlernen durfte. An Jonathan, der ihm so ausführlich geschrieben hatte.
Solange Thomas noch kein Telefon besaß, wollte er auf den langen Brief mit einer ebenso ausführlichen Antwort reagieren! Voll Tatendrang und guter Laune holte er sein Schreibzeug aus der Hütte, setzte sich auf den Wolfsfelsen und begann zu schreiben.
Ob der Brief noch vor dem Wochenende ankommen würde, wenn er ihn gleich morgen einwarf?