Jonathan war zu früh für sein Treffen mit Mareike. Er war direkt nach der Arbeit in die Stadt gefahren und bummelte nun gemütlich durch die Fußgängerzone, von einem Schaufenster zum nächsten, und besah sich die Auslagen.
Nicht, dass er etwas Besonderes suchte. Aber man wusste ja nie, was man so fand. Es war herrlich warm, und das geschäftige und fröhliche Treiben auf den Straßen und in den Sitzbereichen vor den Cafés erzeugte eine unbeschwerte Sommerstimmung, die Jonathan sehr gefiel.
Wie das Wetter in den Bergen wohl gerade war?
Er zog sein Smartphone aus der Tasche und sah wieder einmal nach. Immer noch Regen. Wie schade.
Er steckte das Telefon zurück und schlenderte lächelnd weiter. Wann würden Sebastian und er wohl wieder ins Dorf fahren? Er musste ihn unbedingt fragen. Sobald er es wusste, konnte er Thomas schreiben, ohne das Gefühl zu haben, sich seltsam zu verhalten. Er hatte versprochen, sich zu melden, wenn er den nächsten Besuchstermin kannte – vorher und ohne diese Information einen Brief zu versenden, würde einen seltsamen Eindruck machen.
Mit Unbehagen erinnerte er sich daran, dass Lukas ihm vorgeworfen hatte, er schwärme. Diesen Eindruck musste er unbedingt verhindern. Er war seit der ersten Klasse als schwul beschimpft worden, und das nur, weil er als Werwolf Leute gerne berührte. Nicht, dass er und die Klassenkameraden damals gewusst hätten, was genau das Wort bedeutete. Aber es war etwas Negatives, das war allen klar. Und als sie den Ausdruck dann verstanden, beäugten die anderen ihn noch kritischer.
Solange sein großer Bruder auf derselben Schule war, hatte dessen Anwesenheit ihn vor Prügel bewahrt. Dann war es ein Jahr lang wirklich schlimm. Und dann kam Sebastian in die Pubertät, und sein Wolf brach sich Bahn. Nicht, dass jemand außer Jonathan und seiner Mutter davon gewusst hätte – doch niemand legte mehr Hand an den kleinen Bruder des Jungen, der dieses gefährliche Funkeln in den Augen hatte, wenn man seiner Familie auch nur verbal zu nahe kam. Dennoch erzeugte die Vermutung, er könne sich für Männer interessieren, immer noch nackte Angst in Jonathan. Angst vor den Schlägen derer, die glaubten, das sei etwas Verachtenswertes.
Stirnrunzelnd verbannte Jonathan die Erinnerungen an seine Kindheit in die dunkle Ecke seines Gedächtnisses, in die sie gehörten. Es war ein viel zu schöner Abend, um über solche Sachen nachzudenken!
Er würde einfach im Café auf Mareike warten, anstatt hier noch weiter sinnlos herumzulungern.
Zu seiner Überraschung war auch seine beste Freundin früher dran als erwartet. Als sie ihn sah, sprang sie freudestrahlend auf und fiel ihm um den Hals. Jonathan lachte – er hatte sie wirklich vermisst!
„Wie war’s in der Schweiz?“, fragte er, als sie sich setzten.
Mareike hob begeistert die Hände. „Absolut phantastisch! Diese Berge – unglaublich, wie hoch die sind! Wir hatten richtig tolle Sicht, als wir hingefahren sind, und dann ging’s irgendwann bergauf, und bergauf, und bergauf – das hörte gar nicht mehr auf! Ich weiß jetzt auch, was du meintest, als du sagtest, die Luft sei in den Bergen ganz anders. Du hast wirklich Recht! Und das Hotel!“
Lächelnd hörte Jonathan Mareike zu, wie sie ihm von ihrem Urlaub vorschwärmte. Zwei Getränke lang berichtete sie von den Wanderungen und Naturwundern, die sie und ihr Freund Mike erlebt und bestaunt hatten. Mike bestand auch auf die Besichtigung von ein, zwei Städten, und die waren wohl auch ganz nett gewesen, aber für Mareike eben nicht so beeindruckend wie die Landschaft. Als Kind der Rheinebene waren Berge für sie etwas unglaublich Faszinierendes, und was die Liebe zur Natur anging, war sie so eindeutig Kinfolk wie sonst kaum jemand in Jonathans Bekanntenkreis.
„Wie war es denn bei dir?“, fragte Mareike, als sie ihre Erzählung beendet hatte. Aufmerksam beobachtete sie Jonathan – sie war überzeugt, dass der Tod seiner Mutter ihn härter getroffen hatte, als er nach außen zu erkennen gab. Nachdem sie auf Aufforderung zuerst von ihrem vergnüglichen Urlaub berichtet hatte, wollte sie nun wissen, wie es in der Seele ihres besten Freundes aussah.
Das Lächeln, mit dem Jonathan ihren begeisterten Worten gefolgt war, erlosch. „Seltsam“, erklärte er. „Das Haus ist schrecklich leer ohne Mum. Es fehlt was. Sie. Es ist nicht mehr dasselbe.“ Er biss sich auf die Unterlippe, fuhr dann fort. „Ich weiß nicht, ob ich mich dort noch zuhause fühle.“
Mitfühlend legte Mareike ihre Hand auf Jonathans und drückte sie. „Das glaube ich dir. Wie wurdet ihr aufgenommen?“
Wieder fasste Jonathan seine Empfindungen in nur einem Wort zusammen, bevor er weiter ausholte. „Nett. Die Leute haben uns oft erkannt, und die Nachbarn kamen sogar, um uns ein wenig Trost zu spenden. Unsere Schulfreunde haben uns so selbstverständlich wieder in ihre Aktivitäten eingeschlossen, als sei nichts passiert und keine Zeit vergangen. Das war toll. Es war eine willkommene Abwechslung von der ganzen Arbeit.“
„Was habt ihr denn gemacht?“
Jonathan lächelte schief. „Na ja. Sebastian hat sich um die ganze Bürokratie gekümmert. Ich hab ihm geholfen, Unterlagen zusammenzusammeln, das war’s eigentlich. Oh – ich habe Rasen gemäht und die Hecke geschnitten und ab und an Essen gemacht und eingekauft. Ganz so unnütz war ich also doch nicht!“ Er zog eine Grimasse.
Doch Mareike ließ sich von seiner flapsigen Art nicht vom eigentlichen Thema abbringen. „Er war sicher froh, dass du da warst“, sagte sie voll Überzeugung.
Jonathan sah in sein leeres Glas. „Ach, ich weiß nicht. Ich war keine echte Hilfe. Ich kann diesen Kram einfach nicht.“
„Musst du auch nicht. Du warst da. Sebastian braucht dich.“
Jonathan lachte freudlos auf. „Ich weiß nicht. Er ist doch derjenige, der mich immer trösten muss und auf mich aufpasst!“
Jetzt lachte Mareike doch tatsächlich und schüttelte nachsichtig den Kopf. „Oh Jona! Manchmal bist du wirklich blind!“ Wieder drückte sie seine Hand. „Dein Bruder braucht dich mindestens so dringend wie du ihn. Du und seine Frau, ohne euch beide würde er all das, was er tut, nicht schaffen, da bin ich ganz sicher!“
„Freundin“, verbesserte Jonathan sie. „Steffi ist seine Freundin.“
Mareike winkte desinteressiert ab. „Ist doch egal, läuft aufs Gleiche raus. Du weißt, was ich meine, lenk nicht ab!“
Jonathan zuckte hilflos mit den Schultern und lächelte. Ja, vielleicht war da was dran. Bestimmt sogar. Mareike hatte fast immer Recht, wenn es um solche Sachen ging. „Kann schon sein“, gab er nach.
„Und wie geht es euch beiden jetzt?“, fragte Mareike, nachdem auch sie ihr Glas geleert hatte.
Nachdenklich runzelte Jonathan die Stirn. „Ich weiß es nicht genau. Mir ganz ok, aber Sebastian ist irgendwie ... komisch.“ Er warf einen kurzen Blick in die Umgebung, beugte sich dann weiter über den Tisch zu ihr hinüber und senkte die Stimme. „Wir haben jemanden kennengelernt. Ich kann’s zwar nicht beweisen, aber ... ich bin ganz sicher, der ist wie du und Steffi.“
Sie fing seinen bedeutungsvollen Blick auf, doch sie benötigte dennoch zwei, drei Sekunden, bis sie ihn verstand. Er hatte Kinfolk kennengelernt? In seinem Heimatort?
Es war sinnlos, hier und jetzt Fragen zu stellen. Sie befanden sich unter Menschen, da konnten sie nicht über Dinge zu sprechen, die zur Werwolfgesellschaft gehörten.
„Machen wir einen Spaziergang“, schlug sie daher vor. Jonathan nickte und winkte eine Bedienung heran, um die Rechnung zu bezahlen.