Sebastian fand seinen Bruder auf dem Sofa im Wohnzimmer vor, als er von einem der zahlreichen Termine, die die Erbschaft mit sich brachte, nach Hause kam. Jonathan sah unendlich enttäuscht aus – ein Anblick, der ihm einen Stich versetzte. Er ließ die Unterlagen unbeachtet auf den Tisch fallen und setzte sich zu seinem Bruder, um sich dessen Erlebnisse erzählen zu lassen.
„Er hat dir also wortwörtlich die Tür vor der Nase zugeschlagen?“ Es lag kein Spott in Sebastians Stimme, nur Verwunderung darüber, wie präzise seine Aussage vom Morgen gewesen war.
Jonathan nickte. „Ja. Du hattest Recht. Mal wieder.“ Er zog die Knie eng an die Brust und seufzte enttäuscht.
Sein großer Bruder legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich – Körperkontakt tröstete nicht nur in Wolfsform.
„Und jetzt?“, fragte Sebastian sanft.
Jonathan zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Warum ist mir die Sache überhaupt so wichtig?“
Sebastian nahm sich Zeit für die Antwort.
Er kannte seinen Bruder. Er war unglaublich sensibel, nahm sich selbst Kleinigkeiten sehr zu Herzen. Und das hier war ihm wichtig.
Es gab seiner Ansicht nach nur zwei Möglichkeiten, warum der Mann in den Bergen Jonathans Interesse auf sich gezogen haben könnte. Beide gefielen ihm nicht. Er mochte es nicht, wenn sein Bruder enttäuscht wurde, und in beiden Fällen bestand dafür eine hohe Wahrscheinlichkeit – immerhin würden sie hier nicht allzu lange bleiben.
Dann sprach er einen Teil seiner Gedanken aus. „Er ist ein Einzelgänger, lebt total zurückgezogen. Er war freundlich und offen zu einem Wolf, aber Menschen knallt er die Tür vor der Nase zu. Irgendwas hat ihn verletzt. Vielleicht willst du ihm helfen, wie er dir geholfen hat – ihm etwas wie ein Rudel geben, damit er nicht alleine ist.“ Es sähe Jonathan ähnlich. Er wollte immer das Beste für alle Mitglieder seiner Septe.
Jonathan dachte nach. „Vielleicht“, stimmte er nach einer Weile zu. „Kannst du dir vorstellen, wie es wäre, ganz alleine zu sein?“
„Vielleicht mag er es wirklich“, wandte Sebastian vorsichtig ein. „Immerhin ist er ein Mensch, kein Wolf.“
Aber Jonathan schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Menschen sind auch soziale Wesen. Niemand ist wirklich gern ganz alleine. Ich muss nur herausfinden, wie ich ihn zum Reden bringen kann!“
Sebastians Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ok, er hatte keine Chance, seinen Bruder umzustimmen, er sah es ein. Aber vielleicht konnte er wenigstens dafür sorgen, dass er keine törichten Pläne fasste. „Was hast du also vor?“
„Ich besuche ihn heute Abend nochmals, aber als Wolf.“ Plötzlich lächelte er. „Er würde sich bestimmt freuen – er hat eine Art Köder ausgelegt, glaube ich. Ich bin mir sicher, dass er sich eigentlich einsam fühlt, Sebastian – vielleicht erzählt er mir ja davon?“
„Ja, das könnte tatsächlich sein.“ Er drückte seinen Bruder kurz, bevor er sich vom Sofa erhob. „Pass einfach auf dich auf, ja? Und komm bitte spätenstens am Morgen zurück, sonst mache ich mir Sorgen. Er mag dir ja geholfen haben, aber ganz überzeugt hat er mich noch nicht.“ Er seufzte, als er die Papiere auf dem Tisch betrachtete. „Ich werde derweil mit der Bürokratie kämpfen.“
Jonathans Laune hatte sich deutlich gebessert, und voll Tatendrang stand er ebenfalls auf und umarmte Sebastian nun seinerseits. „Danke, dass du dich damit rumschlägst, Bruderherz. Ich könnte das grade nicht. Damit fühlt sich alles so ... endgültig an.“
„Weiß ich doch“, beruhigte ihn Sebastian lächelnd. „Na los, such dir bis zur Dämmerung was zu tun. Mach uns was zu essen.“ Er schubste ihn sanft in Richtung Küche und sah ihm dann einen Moment hinterher.
Vielleicht war das Rätsel um den Mann in den Bergen genau ja das, was Jonathan gerade brauchte – eine Ablenkung, bis er hier mit dem Papierkram durch war und sie endlich wieder nach Hause konnten.
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Die Luft! Die Luft ist hier so toll! Sauber, klar, unverfälscht, interessant! Das ist das Allerbeste hier! Die Luft!
Hingebungsvoll sog er sie ein.
Sie war mit einem trägen, schweren Duft nach feuchter Wiese durchsetzt, diesem herrlichen Geruch, den auch Menschen wahrnahmen. Aber für die Nase eines Wolfs war da noch viel mehr!
Verschiedenen Pflanzenarten. Erde, die an fast jeder Stelle anders riecht. Spuren von Tieren: mindestens fünf Kaninchen. Drei Gämsen. Murmeltiere. Zwei Menschen. Viele Mäuse und anderes Kleingetier.
Was ist das denn?
Mit aufgestellten Ohren folgte er einer interessanten Fährte.
Ein sehr kleines Tier. Ein neues Tier! Was ist das? Es ist von Fels zu Fels getrippelt. Erst hier, dann dort ... zum Bach. Um etwas zu trinken?
Erst nach einigen Minuten bezwang er seine Neugier. Heute kein Streifzug, ermahnte er sich und besann sich auf sein eigentliches Ziel: die Hütte weiter oben am Hang.
Schon aus einigen Metern Entfernung roch er es: ein Stück Trockenfleisch, wieder auf dem flachen Felsen.
Es riecht wie das von vorgestern Nacht. Das war gut. Ist das für mich? Ein Geschenk?
Oder doch ein Köder?
Wird der Mann mich verjagen?
Ich muss vorsichtig sein.
Er beschnupperte das Futter bedächtig.