Nur schleppend fand er ins Bewusstsein zurück. Ihm war, als läge der Nebel der letzten Tage nun um seinen Verstand, so dass die Gedanken sich nur langsam bis an die Oberfläche tasteten.
Das leise Hintergrundrauschen des Regens auf das Dach der Hütte betonte die in den Bergen herrschende Stille, und die völlige Dunkelheit, die ihn umgab, überraschte ihn nicht. Das pelzige, trockene Gefühl auf der Zunge war unangenehm, aber als er die Hand nach dem Wasser ausstrecken wollte, das er stets in Reichweite seines Bettes aufbewahrte, wurde ihm bewusst, dass etwas nicht stimmte.
Er lag nicht auf seinem Bett, dazu war der Untergrund zu hart. Und er war so eng in eine Decke gewickelt, dass er sich kaum rühren konnte. Und ihm war warm. Verdammt warm.
Erst als seine Nase den leichten Geruch nach nassem Hund wahrnahm, fiel ihm alles schlagartig wieder ein: die Jäger, seine Sorge um den Wolf. Der Schuss. Der Stein, über den er gestolpert war. Der Sturz – dann nichts mehr.
Wie zum Teufel war er hierher gelangt? Vage Erinnerungsfetzen waberten durch seinen Geist, halfen ihm aber nicht weiter. Jemand hatte ihn hergebracht. Ein Mann. Ein nackter Mann? So ein Quatsch! Der Schlag auf den Kopf hatte seinen Verstand offenbar ordentlich durcheinandergebracht, und er schüttelte schmunzelnd den Kopf über seine überbordende Phantasie.
Ein scharfer Schmerz ließ ihn sofort innehalten und leise aufstöhnen. Seine Finger ertasteten einen dicken Verband um seine Stirn, stümperhaft aber zweckmäßig. Den hatte ganz sicher nicht er angelegt. Hatte es den nackten Mann also doch gegeben?
Eins nach dem anderem – jetzt brauchte er erst einmal einen Schluck Wasser.
Der warme Wolf lag so eng an ihm geschmiegt, dass er sich kaum aufrichten konnte. Er fühlte sich schwach und ihm war schwindelig, und er stolperte im Dunkeln über Dinge, die auf dem Boden verteilt waren. Was war hier nur vorgefallen?
Das kühle Wasser war eine wahre Wohltat und gab ihm Kraft, den Geschehnissen dieser Nacht auf den Grund zu gehen. Da er seine Lampe nicht fand, entzündete er ein Streichholz und sah sich um.
Verblüfft starrte er auf das Chaos. Einige seiner Aufbewahrungssäcke lagen geöffnet auf dem Boden. Aus einem verteilten sich Verbandsmaterialien in der Umgebung. Seine Kleidung vervollständigte das Durcheinander, und neben dem schlafenden Wolf stand die gesuchte Lampe. Dann verlosch das Streichholz.
Hatte er gerade blutige Fußabdrücke auf dem Boden gesehen?
Sicherlich träumte er nur. Langsam ließ er sich auf die Kante seines Bettes sinken.
Sein Kopf schmerzte bei dem Versuch, Erinnerungen und Beobachtungen zu einer sinnvollen Geschichte zu verbinden. Im Traum empfand man keinen Schmerz. Dennoch musste es einer sein ... wie sonst sollte er sich die verwirrenden Eindrücke erklären, die auf ihn einstürmten?
Eine kalte, feuchte Nase streifte sein Knie. Der Wolf war zu ihm ans Bett getreten, drängte ihn sanft dazu, sich hinzulegen.
„Du findest, ich gehöre ins Bett?“, fragte er leise.
Er bildete sich ein, dass das Geräusch, das der Wolf von sich gab, Zustimmung ausdrückte. Er hinterfragte diesen Gedanken nicht und akzeptierte auch, dass der Wolf die Decke vom Boden holte und über ihn zog.
Es war ein ausgesprochen seltsamer Traum.
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Ein lautes, kräftiges Klopfen an der Tür riss ihn aus dem Schlaf.
„Jonathan?“ Die Stimme eines Mannes. Er klang sowohl wütend als auch besorgt. „Bist du hier?“
Der Name kam ihm bekannt vor. Ja – den benutzte sein nackter Retter im Traum von letzter Nacht! Was zum Teufel lief hier eigentlich ab?
Der Mann wickelte sich seine Decke um den Körper und schleppte sich zur Tür.
„Was ist los?“ Er hatte kaum die Tür geöffnet und die Frage gestellt, als er auch schon zur Seite geschoben wurde.
„Jonathan?“ Ein Fremder blickte sich in seiner Hütte um, besah das Chaos auf dem Boden, ließ seinen Blick dann über den nackten Oberkörper des Mannes und das zerwühlte Bett gleiten. Unsicherheit flackerte in seinen Augen auf. „Ist er hier?“
Trotz der Kopfschmerzen wurde der Mann langsam sauer. „Also, ich bin bestimmt nicht der, den du suchst, Mann. Und außer mir ist niemand hier.“
Wo war eigentlich der Wolf? Suchend sah er sich um.
Der Fremde musterte ihn misstrauisch. „Was ist Ihnen denn zugestoßen?“
Richtig, der Verband. „Das geht niemanden was an. Und jetzt zieh Leine. Das ist mein Zuhause, in dem du deine feuchten Stiefelabdrücke hinterlässt.“
Tatsächlich wirkte der Fremde nun ein wenig peinlich berührt. „Ja. Natürlich. Entschuldigung.“ Er wandte sich zum Gehen. „Falls mein Bruder hier wieder auftaucht, geben Sie ihm bitte das hier. Danke.“ Mit diesen Worten ließ er den mitgebrachten Rucksack neben die Tür fallen und begab sich wieder in den wolkenverhangenen Vormittag hinaus.
Verwirrt sah der Mann ihm nach. Wieder auftauchen? Meinte er den nervigen Kerl, der ihn dauernd kennenlernen wollte? Ratlos wühlte er im Rucksack. Darin waren nur Kleidungsstücke.
Seufzend schloss er die Tür, warf den Rucksack in eine Ecke und legte sich wieder schlafen. Er würde dieses Puzzleteil später mit den vielen anderen seltsamen Begebenheiten der letzten Stunden zu verknüpfen versuchen. Doch zuerst musste er sich noch ein wenig erholen.
Wo war nur der Wolf?