Die Jäger lagen schon wieder auf der Lauer, das war nicht zu überriechen. Doch Jonathan war ihnen gegenüber klar im Vorteil. Die Sichtverhältnisse waren schlecht, da nur vereinzelte Wolkenlücken Sternenlicht bis auf den Hang vordringen ließen. Während das die Jäger behinderte, genügten ihm Nase, Ohren und Tasthaare, um seinen Weg an ihnen vorbei zu Thomas‘ Hütte zu finden.
Aufgrund des Regens und der starken Bewölkung der vergangenen Tage waren die Temperaturen deutlich gefallen, so dass er nicht erwartete, Thomas vor der Tür sitzend vorzufinden. Dennoch war er ein wenig enttäuscht, als er Recht behielt. Es hielt ihm vor Augen, wie anders sein Besuch diesmal sein würde.
Er umrundete die Hütte einmal vorsichtig, sah, lauschte und roch achtsam in alle Richtungen, bevor er es wagte, sich dem Eingang zu nähern.
Unschlüssig stand er davor.
Was wird er tun? Lässt er mich rein? Kommt er raus? Darf ich an ihm schnüffeln? Ich bin ein Wolf. Ich möchte schnüffeln. Für ihn bin ich kein Wolf mehr. Wie reagiert er?
Einem Seufzer gleich atmete er aus. Dann fasste er sich ein Herz, hob eine Pfote und scharrte mit den Krallen geräuschvoll an der Tür.
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Diesmal war es ganz sicher ein Kratzen gewesen! Aufgeregt sprang Thomas auf und eilte zur Tür, riss sie erwartungsvoll auf, nur, um den Wolf einen erschrockenen Satz zurück ins Dunkel machen zu sehen.
Verdammt! Was war nur in ihn gefahren? Dieser Überfall war ein beschissener Anfang für eine Unterhaltung!
„Jonathan?“ Selbst in den eigenen Ohren klang seine Stimme verzagt. „Bist du noch da? Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken!“
War er fort? Angestrengt spähte er in die Finsternis.
Nein – da reflektierten zwei Augen den Lichtschein, der aus seiner Hütte fiel! Warum kam Jonathan nicht näher?
Da realisierte er, dass er immer noch sein Schnitzmesser in der Hand hielt. Scheiße – was musste das für einen Eindruck machen, wenn man wegen eines Gesprächs an einer Tür klopfte und die von einem Bewaffneten aufgerissen wurde?
„Das ... das ist nicht so, wie es aussieht“, murmelte er betreten und warf das Messer eilig zu den anderen Schnitzutensilien in der Hütte zurück. „Ich war am Schnitzen“, versucht er sich an einer Erklärung. „Bitte entschuldige.“
Zu Thomas‘ unendlicher Erleichterung kam der Wolf langsam auf ihn zu. Er trat ein Stück in die Hütte zurück und hielt einladend die Tür auf. Nach kurzem Zögern tat der Wolf bedächtig nur wenige Schritte in den Raum hinein und sah sich aufmerksam um. Thomas lächelte: Da war sie wieder, diese Vorsicht zu Beginn ihrer Begegnungen, die er schon häufiger bemerkt hatte. Handelte Jonathan in Wolfsgestalt also tatsächlich mehr wie ein Wolf als wie ein Mensch?
„Darf ich die Tür zumachen?“, fragte er. „Draußen ist es heute Nacht recht kühl.“
Jonathan zögerte einen Augenblick, trat dann aber noch weiter in die Hütte hinein. Thomas nahm das als Einverständnis, schob die Tür zu und drehte sich zu Jonathan um, der unentschlossen im Raum stand.
„Hallo“, begann Thomas nervös das Gespräch. „Danke, dass du gekommen bist. Ich hab mich letztes Mal unmöglich verhalten. Tut mir ehrlich leid. Ich möchte mich gern mit dir unterhalten.“
Jonathan stand weiterhin in der Mitte der Hütte und ließ seine Augen unstet durch den offenen Raum wandern.
„Alles ok?“ Thomas versuchte, seine Unsicherheit hinunterzuschlucken. Warum verwandelte sich Jonathan nicht, um mit ihm zu sprechen?
Irgendetwas stimmte hier nicht ... Beklemmung machte sich in ihm breit, als er seiner Situation gewahr wurde: Er stand mit bloßen Händen einem ausgewachsenen Wolf gegenüber, dessen Stimmung und Geisteszustand er nicht einzuschätzen vermochte. Wie viel Verstand und wie viel Instinkt beherrschten diesen Körper? Nun bereute er es, das Messer weggelegt zu haben.
So ein Unsinn! Energisch rief er sich zur Ordnung. Jonathan hatte ihm bisher nie etwas getan, ganz im Gegenteil! Warum sollte er hier heraufkommen, wenn er nicht mit ihm sprechen wollte?
Thomas räusperte sich, um seine Stimme zu klären, und wischte die Handflächen an der Hose trocken.
„Jonathan?“
Ein kurzer Blick war alles, was er erhielt.
Thomas atmete langsam und tief durch. Lageanalyse! Es gab irgendein Problem, so viel war klar. Jonathan konnte in dieser Form zwar nicht mit ihm sprechen, doch er verstand ihn, das hatte er selbst gesagt. Thomas stand nicht wirklich einem Tier gegenüber – und genau das würde er sich jetzt zunutze machen.
In einer langsamen Bewegung kniete er sich auf den Boden, auf Augenhöhe mit dem großen Wolf. Falls Jonathan in dieser Gestalt instinktgesteuert reagierte, wollte er ihn nicht unnötig reizen.
„Ich weiß, dass du mich verstehst, Jonathan. Du wärst nicht hier, wenn du nicht mit mir reden wollen würdest. Aber du bleibst ein Wolf, also stimmt irgendetwas nicht. Ich kapiere nicht, was. Bitte hilf mir. Gib mir ein paar Antworten.“
Der Wolf fokussierte ihn, legte den Kopf schief und lauschte aufmerksam.
„Lass uns die Spielregeln festlegen“, fuhr Thomas fort. „Was machst du, wenn du ‚ja‘ meinst?“
Einen schrecklichen Moment lang befürchtete er, dass das hier nicht funktionieren würde. Doch dann ertönte dieses eigenartige Wuffen, mit dem er vor einigen Tagen geweckt worden war.
Erleichtert lächelte er und entspannte sich ein wenig.
„Ok, verstanden. Du ... bellst? Das heißt ‚ja‘. Und was heißt ‚nein‘?“
Jonathan knurrte leise, ein kehliges, bedrohliches Geräusch, das Thomas einen leichten Schauer über den Rücken jagte.
„Gut. Du bellst, wenn du ja meinst, und du knurrst für nein. Richtig?“
Ein Wuffen. Gut.
„Du bist hier, um mit mir zu reden, stimmt’s?“
Jonathan bejahte.
„Aber du verwandelst dich nicht, obwohl du das müsstest, damit ich dich verstehe. Kannst du dich nicht verwandeln?“
Nach kurzem Zögern antwortete ihm ein Knurren.
„Du könntest dich also verwandeln?“
Bestätigung.
„Willst du nicht?“
Der Wolf zögerte, bevor er ein leises Wuffen von sich gab.
Verdammt – hieß das jetzt ‚doch, will ich‘ oder ‚stimmt, ich will nicht‘? Verdammte Fragen mit ‚nicht‘!
„Äh ... nochmal. Willst du dich verwandeln?“
Zunächst winselte Jonathan leise, dann knurrte er kaum vernehmlich.
Thomas war irritiert. Für ihn klang das, als sei es Jonathan unangenehm. Was könnte ihm an seiner Verwandlung peinlich sein? Thomas wusste doch, dass Jonathan ein Gestaltwandler war! Lag es an äußeren Umständen? Oder an ihm, Thomas, selbst?
Nein. Jonathan hatte sich in der Nacht seines Sturzes doch auch in seiner Gegenwart verwandelt. Er runzelte nachdenklich die Stirn. Die Erinnerung war durch den Schlag auf den Kopf so vage, dass er sie nicht mehr genau vor Augen hatte. Wie war das abgelaufen?
Dann kam ihm endlich die Erleuchtung. Es ging um die Folgen der Verwandlung!
„Du willst nicht, dass ich zusehe, wenn du plötzlich nackt vor mir sitzt!“, rief er aus.
Dieses Mal war Jonathans Zustimmung so klar und deutlich, dass Thomas seine Erleichterung förmlich spürte.
Er lachte. „Tut mir leid, dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin!“ Beim letzten Mal hatte Jonathan sich für seine Verwandlung ja auch zurückgezogen!
Und er hatte den Rucksack mit Kleidungsstücken mitgenommen. Den hatte er dieses Mal nicht.
Thomas stand auf, nahm eine Decke von einem der Regalbretter und legte sie auf den Hocker in seiner Nähe. „Ich geh so lange raus. Verwandle dich in Ruhe und nimm dann diese Decke – mach einfach die Tür auf, wenn ich wieder reinkommen darf, ok?“
Dankbarkeit lag im Blick des Wolfs, als der wuffend seine Zustimmung bekundete, und Thomas verließ seine Hütte.
Er war erleichtert, dass dieses Problem so leicht zu lösen gewesen war. Hoffentlich war das ein gutes Omen für das kommende Gespräch.
Seufzend steckte er die Hände in die Hosentaschen, wandte seinem Zuhause den Rücken zu und sah ins Tal hinunter, wo die Lichter des Orts leicht zu flackern schienen. Er wollte nicht, dass Jonathan durch eines der beiden Fenster sah und das Gefühl bekam, er würde ihn trotz seiner Zusage, ihm seine Ruhe zu lassen, heimlich beobachten.
Andererseits kannte er die Spalten in den Wänden, durch die gelegentlich der Wind pfiff ...
Ärgerlich schüttelte er den Gedanken ab. Was war nur los mit ihm? War er so neugierig, wie eine Verwandlung ablief?
Sicherlich war Jonathan froh, dass Thomas sich kaum an die Ereignisse nach seinem Sturz erinnern konnte. Wie mochte es sich angefühlt haben, sich schutzlos im Freien zu verwandeln und völlig unbekleidet einen quasi Fremden durch den Regen zu schleppen?
Thomas könnte ihn heute einfach fragen.
Nein, den Teil ließ er besser weg. So gut kannten sie sich nicht. Er würde zunächst seine allgemeine Neugier stillen, mehr über Gestaltwandler erfahren.
Jonathan faszinierte ihn auf eine unerklärliche Art und Weise. Obwohl er ihn nicht wirklich kannte, spürte er eine seltsame Vertrautheit, die seit der Erkenntnis, dass Jonathan der Wolf war, ständig wuchs.
Da öffnete sich die Tür der Hütte und gab den Blick auf den in die Decke gewickelten menschlichen Jonathan frei.
„Danke“, murmelte der verlegen. Wieso wollte er eigentlich unbedingt als Wolf hierher kommen? Er hätte sich diese ganze Szene ersparen können!
Irgendwie hatte er das Gefühl, dass das mit den Klamotten einer der Gründe war, warum Sebastian ihm empfehlen wollte, sich als Mensch auf den Weg zu machen. Er sollte definitiv häufiger auf seinen großen Bruder hören.