Immer noch hielt sich dieser verdammte Nebel. Ob er den Wolf davon abhielt, erneut zu ihm zu kommen? Oder war ihm gar etwas zugestoßen? Wieder lauschte er konzentriert, doch von den wenigen gedämpften Geräuschen, die sein Ohr erreichten, stammte keines von einem größeren Tier. Ein, zwei Menschen schlichen am nahen Waldrand herum – was hatten die hier oben nur zu suchen? Unwichtig – so lange sie ihn in Ruhe ließen, waren sie ihm egal.
Mit einem leisen Seufzen legte er das Stück Holz, das er mit seinem Messer bearbeitet hatte, zurück in den Sack, in dem er die unfertigen Werke aufbewahrte. Müde fuhr er sich über die Augen – er brauchte dringend etwas Schlaf.
Er war so lange vor der Tür gesessen, dass er fror, als er unter seine Decke kroch. Wie willkommen wäre ihm jetzt die Gesellschaft und die Wärme des Wolfs. Die Erinnerung, wie er das letzte Mal am Fußende seines Betts geschlafen hatte, ließ ihn lächeln.
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Missmutig starrte Jonathan in den Nebel. Die melancholische Musik aus der Stereoanlage passte zu seiner Laune: Seit zwei Tagen hingen die Wolken so tief, dass sie die Bergspitzen nicht mehr überwinden konnten und den kleinen Ort einhüllten. Das Wetter drückte auf die Stimmung, bei jedem, dem er bei seinen Einkäufen und Spaziergängen begegnete, und er machte auch Grillen bei Anna unmöglich.
Sebastian arbeitete wie ein Besessener am Bürokratiewahn, den die Erbschaft mit sich brachte. Jonathan wollte seine Konzentration nicht stören, insbesondere wegen seiner momentanen Stimmung. Sein Bruder schien entschlossen, sie beide so schnell wie möglich hier wegzubringen.
Er selbst war sich nicht sicher, ob er das wollte.
Ja, genau das war die Frage: Was wollte er eigentlich?
Er wünschte, er könnte seine beste Freundin Mareike erreichen, aber die war mit ihrem Freund in der Schweiz und hatte wegen der hohen Roaminggebühren das Telefon ausgeschaltet. Sie hatte die Gabe, seinen langen Erzählungen, Zweifeln und Überlegungen zu lauschen und ihm am Ende präzise zu erklären, was ihn umtrieb.
Er starrte weiter antriebslos aus dem Fenster.
Was der Mann in den Bergen wohl bei diesem Wetter machte?
Jonathan hatte sich an die Weisung seines älteren Bruders gehalten und war nicht mehr in Wolfsgestalt zur Hütte hinaufgegangen. Und der Mann hatte deutlich gemacht, dass er keinerlei Wert auf seine menschliche Gesellschaft legte.
Dieser Umstand verletzte ihn. Er wurde dafür verurteilt, was er war, ohne die Chance zu erhalten, als Person, als Individuum beurteilt zu werden. Es war unfair, und er war machtlos gegen diese Ungerechtigkeit.
Er wollte mit dem Mann befreundet sein, ihm zeigen, dass er nicht so einsam sein musste. Er wollte es wirklich. Aber wie sollte er das anstellen, wenn er ihm nur in Wolfsform begegnen konnte?
Der Mann mochte den Wolf. Menschen, hatte er ihn gewarnt, würden einen immer nur enttäuschen.
Wäre der Mann auch von ihm enttäuscht, wenn er erfuhr, dass er ihn über seine wahre Natur im Unklaren gelassen hatte? Würde er überhaupt mit ihm befreundet sein wollen, wenn sein wölfischer Freund sich als etwas anderes entpuppte? Er würde dem Wolf nie wieder so offen und freundlich begegnen wie jetzt.
Wollte er die wunderbare Freundschaft, die den Wolf und den Mann verband, wirklich riskieren, um ihm auch als Mensch nahe zu sein?
Es könnte so einfach sein, wenn er mit dem zufrieden wäre, was er hatte.
Wenn er hier war, konnte er den Mann jederzeit als Wolf besuchen, Zeit mit ihm verbringen, ihn riechen, fühlen, schmecken und spüren, seinen Geschichten lauschen, ihm Freund und Rudel sein.
Aber er wollte mehr.
Er wollte antworten können, wenn der Andere etwas erzählte, Fragen stellen, mehr über ihn erfahren. Er wollte, dass er auch ihn kennenlernte, ein wirklicher Austausch stattfand. Er wollte von ihm als das akzeptiert werden, was er war – Wolf und Mensch, in mehr als nur einer Form freudig willkommen geheißen werden ...
Aber wie könnte er ihm sein wahres Wesen offenbaren, falls er sich dafür entschied?
Er würde ihm wohl kaum glauben, wenn er ihn besuchte und ihm erklärte, er sei übrigens ein Werwolf. Der Mann trat ihm in seiner menschlichen Gestalt derartig ablehnend gegenüber, dass es völlig egal war, was er sagte. Er würde ihm wieder die Tür vor der Nase zuschlagen.
Vor seinen Augen die Gestalt zu wechseln war ebenfalls keine Option. Er müsste sich dafür ausziehen – und wie würde der Mann reagieren, wenn er sich vor ihm zu entkleiden begann? Kurz erhellte ein Schmunzeln sein Gesicht. Nein, das war keine gute Idee. Außerdem fühlte er sich während der Wandlung hilflos und verletzlich – das wollte er nicht in Gegenwart einer Person sein, deren Reaktion er nicht einmal zu erahnen vermochte.
Als Wolf konnte er ihm nichts Komplexes mitteilen.
Er musste als Mensch mit ihm kommunizieren – aber der Mann verweigerte ihm jedes Gespräch.
Warum hatte er nur solche Vorurteile gegenüber Menschen entwickelt? War irgendetwas vorgefallen? Konnte er mithilfe dieser Informationen vielleicht an ihn herankommen?
Jonathan seufzte frustriert. Ohne den Namen war es unmöglich, mehr herauszufinden. Der Mann würde ihn ihm nicht verraten, und hier im Dorf schien ihn niemand zu kennen. Er kam ja praktisch nie herunter, außer zum Einkaufen.
Bezahlt er eigentlich mit Bargeld oder Karte?
Der Gedanke elektrisierte Jonathan. Wenn er mit einer Karte zahlte, hatte Lukas den Namen darauf möglicherweise gelesen! Ein rascher Blick auf die Uhr bestätigte, dass der Laden noch geöffnet war.
Nichts wie los!