Sie hatten nahe dem Flussufer eine Bank gefunden, die weit genug von anderen Personen entfernt stand, um sich ohne Angst vor Zuhörern unterhalten zu können. Indem sie ihre Fahrräder ein wenig ungeschickt platzierten, verhinderten sie auch, dass man allzu nah an ihnen vorbeilaufen konnte.
Jonathan hatte Mareike alles haarklein erzählt: Von der Pflege durch den Sanitäter, als er sich die Hinterläufe gebrochen hatte, vom Gefühl der Vertrautheit gegenüber dem Fremden, vom Versuch, als Mensch mit ihm Kontakt aufzunehmen. Auch seine Ausflüge zur Hütte als Wolf, den Streit nach dem ersten Gespräch, Thomas‘ Besuch im Dorf, Sebastians Geständnis, er mische sich ins Leben seines Bruders ein, und die lange Unterhaltung mit Thomas in der letzten Nacht sowie das Angebot, ihn hierher einzuladen, ließ er nicht aus.
Nur das mit seiner Verwandlung behielt er für sich – das war etwas, das er noch nicht einmal ihr oder Sebastian verraten durfte.
Mareike hatte es sich von Beginn an auf der Bank bequem gemacht, ihren Kopf auf seine Oberschenkel gebettet und ihm geduldig zugehört, nur gelegentlich Zwischenfragen gestellt.
Außerdem hatte sie, wie immer, wenn sie intensiv über etwas nachdachte, ausgiebig auf ihrer Unterlippe herumgebissen. Wie so oft hatte sie die Haut dabei zu sehr malträtiert. Mit einem Lächeln zog Jonathan ein Taschentuch aus seiner Lenkertasche und reichte es ihr. „Du blutest.“
„Ja, ich weiß“, erwiderte sie geistesabwesend, leckte über die Wunde und drückte das Papiertuch dagegen. Sie wussten beide, dass sie Letzteres nur machte, damit Jonathan zufrieden war. Es war eines ihrer ältesten Rituale.
Einige Minuten lang sagte niemand etwas. Sie sahen zum Fluss hinüber, der sich im Licht der bald untergehenden Sonne träge vor ihnen dahinwälzte. Enten hielten sich in ihrer Nähe, immer in der Hoffnung, sie würden anfangen, Futter in ihre Richtung zu werfen. Kajakfahrer und ein, zwei größere Schiffe passierten sie, während die Geräusche des Verkehrs auf der nahen Brücke langsam von denen der Menschen abgelöst wurden, die sich auf den Wiesen am Ufer versammelten, um den Abend zu genießen.
Dann brach Mareike das einvernehmliche Schweigen. „Er weiß jetzt also von der Existenz der Werwölfe. Vorher war ihm das nicht bewusst?“
Jonathan schüttelte stumm den Kopf.
„Gar nicht?“
„Nein“, erwiderte er geduldig. „Aber er hat es sehr schnell akzeptiert, als wäre es etwas, das sein Unterbewusstsein ohne Probleme annehmen könnte. Er schien sogar erleichtert, als ich ihm erklärt habe, was genau Kinfolk ist.“
„Es muss trotzdem ein Schock für ihn gewesen sein. Deshalb auch sein Beinahezusammenbruch in der letzten Nacht.“
Wieder schwiegen sie, während Mareike weiter nachdachte.
Jonathan mochte diese Momente zwischen ihnen. Es gab nicht viele Leute, mit denen man schweigen konnte, ohne dass das Gefühl einer unangenehmen Stille aufkam. Mit Mareike war das seit der ersten Minute so gewesen. Er war froh, dass er sie kannte.
Sie und ihre Familie gehörten nicht direkt zum Rudel, da weder ihre Eltern noch ihre Schwester ein Werwolf waren, doch sie waren Teil des „erweiterten Rudels“, wie Jonathan es nannte. „Assoziiertes Kinfolk“ war der Begriff, den die Rudelführerin nutzte.
Es wurde stets darauf geachtet, auch das erweiterte Rudel in soziale Gruppenaktivitäten einzubinden, damit man einander kannte. Wenn sich aus solchen Bekanntschaften dann Beziehungen ergaben, freuten sich insbesondere die Werwölfe: Ihre Zahl sank stetig, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder eines Werwolfs und eines Kinfolkangehörigen sich verwandeln konnten, war vergleichsweise hoch. Es hatte lange gedauert, bis alle akzeptiert hatten, dass Mareike und er nur Freunde waren, und als sie sich dann einen Menschen als Gefährten ausgesucht hatte, war es der Rudelführung schwergefallen, ihre Enttäuschung zu verbergen. Aber so war es nun mal – Liebe ließ sich nicht steuern, das wusste jeder.
Und Mike war ganz in Ordnung. Für einen Menschen jedenfalls. Jonathan schmunzelte – ganz konnte er die Sticheleien manchmal doch nicht lassen. Zu schade, dass Mareike so vieles vor ihm verheimlichen musste. Er mochte Mike.
„Er ist eifersüchtig“, sagte Mareike plötzlich in die Stille hinein.
Jonathan blinzelte verwirrt. „Was?“ In Gedanken war er immer noch bei Mike. Ja, es hatte viel Zeit gekostet, bis er überzeugt war, dass die Vertrautheit zwischen Jonathan und Mareike rein freundschaftlicher Natur war, aber eigentlich war das doch geklärt?
Sie sah ihn ernst an. „Sebastian ist eifersüchtig. Darum verhält er sich so.“
„Was?“, wiederholte Jonathan. Mareikes Behauptung schien ihm absurd. „Warum das denn?“
„Was empfindest du für Thomas, Jona?“ Ihr aufmerksamer Blick hielt seinen und forderte eine ehrliche Antwort.
Jonathan schluckte trocken. „Weiß nicht genau“, murmelte er. „Ich mag ihn.“ Er stockte, dachte kurz nach. „Es ist ein bisschen, als würde ich ihn schon ewig kennen. Als wäre er genau auf meiner Wellenlänge ... verstehst du?“
Würde sie jetzt auch behaupten, dass er schwärmte? Innerlich wappnete er sich gegen die Ablehnung, die er automatisch befürchtete.
Doch Mareike hielt ihm nichts dergleichen vor. Sie lächelte nur und nickte, als fände sie eine Vermutung bestätigt, die sie ihm nicht mitteilen wollte. „Genau darum ist Sebastian eifersüchtig“, erklärte sie. Sie setzte sich wieder auf und bog ihren von der harten Bank strapazierten Rücken.
„Was kann ich da machen?“ Sorge schwang in Jonathans Stimme mit.
Mareike legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Sei einfach du selbst, Jona. Sebastian wird schon darauf kommen, dass niemand ihm seinen Rang als dein Bruder streitig machen kann, egal, wie gut du ihn leiden kannst.“
Dann erlosch ihr Lächeln und Ernst breitete sich auf ihren Zügen aus. „Ich mache mir um was anderes viel mehr Gedanken. Wenn Thomas gar keine Ahnung von Werwölfen hat, kannst du ihn nicht einfach auf einen Besuch hierher bringen, Jona. Das würde schlimm enden. Er weiß nicht, wie er sich gegenüber dem Rudel zu verhalten hat.“
Jonathan sah sie verständnislos an. „Was meinst du?“
„Er weiß nichts über die Hierarchie im Rudel. Er weiß nicht, welche Funktion Kinfolk für Werwölfe erfüllt. Er weiß nicht, wie ihr euch uns gegenüber verhaltet und wie man das zu verstehen hat. Er weiß nichts! Was, wenn er unabsichtlich etwas falsch macht und ihm das böswillig ausgelegt wird? Im Wolfs- oder gar Werwolfform sind viele Rudelmitglieder ausgesprochen ... hitzköpfig.“
Betroffenheit breitete sich in Jonathans Gesicht aus. „Darüber hatte ich nicht nachgedacht“, gestand er.
Sie lächelte. „Wie auch. Für dich ist das alles ja völlig selbstverständlich. Glaub mir, ich hab auch vieles erst hinterfragt, seit ich mit Mike zusammen bin.“
Der Blickwinkel von Menschen war so anders. Sie hatten kein instinktives Gespür für die Hierarchie eines Rudels und die subtile Körpersprache, die Werwölfe auch in menschlicher Gestalt an den Tag legten. Mit Sicherheit war denen nicht bewusst, wie viel Wolfsverhalten sie als selbstverständlich hinnahmen.
Sie empfand Mitleid für Jonathan, der nun mit hängenden Schultern auf der Bank saß. Da hatte er jemanden gefunden, den er mochte, und nun das ...
Er stand vor einem großen Problem, das sie glaubte, verstehen zu können. Einen Menschen in eine Kinfolk-Familie einzuführen war vermutlich ähnlich schwierig wie unerkanntes Kinfolk zu einem Rudel zu bringen. Jona würde keinesfalls riskieren, dass seinem Freund etwas zustieß. Das würde er auch bei ihr stets zu verhindern suchen, das wusste sie mit unerschütterlicher Sicherheit. Er war für seine Freunde, sein Rudel da – und sie für ihn.
Konnte sie ihn jetzt mit ihren Erfahrungen unterstützen? Sie hatte es geschafft, Mike und ihre Familie zusammenzubringen – das könnte helfen! Denn selbst, wenn Thomas wirklich Kinfolk war – sie vertraute da auf Jonathans Gespür –, war er völlig ohne dieses Wissen aufgewachsen. Es war daher, als wolle man einen Menschen in ein Werwolfrudel integrieren. Nur Kinfolk wie sie kannte und verstand beide Welten ...
Da erhellte sich ihre Miene. „Ich hab eine Idee!“ Zu ihrer Freude wurde die Hoffnungslosigkeit in Jonathans Augen von Neugier verdrängt. „Wenn ihr das nächste Mal zum Haus fahrt, kommen Mike und ich mit! Mike soll dir mit irgendwas am Haus helfen – da gibt es doch sicherlich etwas zu reparieren, oder? Und während Sebastian sich um den Papierkram kümmert, lasse ich mir von Thomas die Gegend zeigen. Und dabei reden wir. Ich werde ihm einen Kinfolk-Crashkurs verpassen!“