Die Inspektion der Außenfassade verlief überraschend positiv: Es gab, abgesehen von einem Loch, das Vögel im Frühjahr gepickt und zum Nisten benutzt hatten, keine Beschädigungen, die es zu reparieren galt.
„Ich würde gerne erst morgen nach dem Keller sehen.“ Jonathan sah Mike an. „Ich muss noch mal ein bisschen an die frische Luft, eine Runde joggen.“
Mike zuckte mit den Schultern, streckte sich und seufzte dann genüsslich. „Auch gut. Sieht ja aus, als wäre morgen doch gar nicht so viel zu tun. So, wie Mareike es gesagt hatte, klang es, als fiele das Haus halb auseinander.“
Das brachte Jonathan zum Lachen. „Für bildhafte Beschreibungen hat sie ein Talent, ja.“ Dann wurde er ernst. „Vielen Dank für deine Hilfe, Mike.“
Der nickte ihm zu. „Das mach ich gern. Sonst hängt ja immer nur Mareike mit euch beiden rum, es ist nett, mal dabei zu sein, und wenn’s nur wegen meiner Talente ist.“
Beschämt blickte Jonathan zur Seite. Tatsächlich nutzte er gern die handwerklichen Talente des Schreinermeisters, traf ihn aber sonst nie. Er lud immer nur Mareike ein – aus offensichtlichen Gründen. Mit Kinfolk war es einfacher als mit Menschen, zumindest hatte er das bisher geglaubt. Allerdings machte das Zusammensein mit seinem Mitbewohner ja auch Freude.
Jonathans augenscheinlich schlechtes Gewissen entlockte Mike ein Lächeln. „Schon ok. Vielleicht ändert sich das jetzt ja, wer weiß? Mir hat das gemeinsame Arbeiten Spaß gemacht. Und jetzt mach, dass du wegkommst, es wird schon bald dunkel.“
Jonathan eilte durchs Haus und fand Sebastian mit Mareike im Wohnzimmer sitzen.
„Ich geh noch mal eine Runde raus.“
Sein Bruder schüttelte den Kopf. „Das ist keine gute Idee. Er kommt doch morgen wieder. Bleib hier, Jona.“
Für einen Augenblick rührte Jonathan sich nicht. Normalerweise hatte Sebastian gute Gründe, wenn er so etwas sagte. Doch bei allem, was mit Thomas zu tun hatte, verhielt er sich seltsam. Das konnte so nicht weitergehen.
Jonathan ging vor ihm in die Hocke, legte eine Hand auf dessen Knie und sah zu seinem Leitwolf hinauf. „Nein“, sagte er leise, aber nachdrücklich. „Ich möchte in Ruhe mit ihm reden. Ich habe mich darauf gefreut und er sich auch. Wenn du mir nicht erklären kannst, warum hierzubleiben besser wäre, gehe ich.“
Wenige Sekunden lang rangen verschiedene Emotionen in Sebastians Gesichtszügen um die Oberhand. Dann schluckte er und nickte knapp. „Was hast du Mike erzählt?“
„Dass ich noch eine Runde joggen gehe.“
Sebastian nickte. „Okay. Dann mach dich auf die Socken, er hat schon einen ganz schönen Vorsprung. Leg deine Sachen in die Küche, ich räum sie weg.“
Zuneigung lag in dem Blick, mit dem Mareike Jonathan ansah. „Es ist gut, wenn du in Ruhe mit ihm redest – er wirkte vorhin ziemlich gestresst. Pass auf dem Weg auf dich auf. Ich lenke Mike ab, wenn du durch den Garten rausgehst.“
Jonathan warf den beiden ein dankbares Lächeln zu und verschwand in der Küche. Das hatte besser geklappt, als er erwartet hatte. Stolz auf sich selbst zog er seine Kleidung aus, wurde Wolf und machte sich durch die Tür zum Garten auf den Weg.
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Thomas war bereits fast eine Stunde unterwegs. Das verhaltene Fluchen und das übereilte Tempo hatte er inzwischen aufgegeben – seine Laune hatte sich von Frustration zu Niedergeschlagenheit gewandelt.
Der letzte Monat war faszinierend gewesen, voll Hoffnung auf einen Neubeginn und Neugier auf ein potenziell völlig anderes Leben. Doch nun zweifelte er, ob all das seine Berechtigung gehabt hatte. Würde er auch im Rudel solch ein Außenseiter bleiben wie heute Abend? Würde er diese ganzen Werwolfregeln je so lernen, dass er nicht andauernd irgendwo aneckte? Sehnte er sich wirklich nach Gesellschaft oder hatte er die Fähigkeit, andere um sich zu ertragen, durch die Einsamkeit hier oben verloren? Hatte er sich in Jonathan getäuscht, sah der nur einen Zeitvertreib in ihm, der ihn zeitweilig aus den rigiden Strukturen des Rudels ausbrechen ließ? Würde Jonathan ihn und all die Hoffnungen, die er in ihm geweckt hatte, achtlos fallenlassen, falls sein älterer Bruder ihn nicht mochte? Es waren heute Abend keinerlei Anzeichen zu erkennen gewesen, dass der Jüngere sich auch nur ein bisschen für Thomas interessierte.
Vielleicht wäre es das Einfachste, die ganze Sache abzublasen. Er könnte morgen zuhause bleiben oder eine Wanderung machen und die Werwölfe vergessen. Sebastian würde es sicherlich richtig deuten, falls er nicht auftauchte – und Jonathan würde es akzeptieren, wenn sein Leitwolf es akzeptierte.
Seufzend drehte Thomas sich um und sah ins Tal hinunter. Ein beschissener Tag, der eigentlich so gut angefangen hatte und ihn jetzt so unschlüssig zurückließ.
Er wollte sich gerade wieder bergauf wenden, als eine Bewegung ein Stück weiter unten am Hang seine Aufmerksamkeit erregte. Trotz des einsetzenden Zwielichts erkannte er, dass ihm etwas nach oben folgte. Ein Tier?
Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er an die Zeit vor einigen Wochen dachte. Die Abende, in denen er voll Vorfreude auf seinen Wolf gewartet hatte. War das möglich?
Rasch unterdrückte er diese Gedanken. Er hatte keine Lust auf eine weitere Enttäuschung und sollte realistisch bleiben, verdammt noch mal. Hatte ihm Jonathans Verhalten heute Abend nicht ausreichend gezeigt, dass er –
Er verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten, als ihn wie aus dem Nichts ein großer Körper aus einer kleinen Senke vor ihm ansprang. Begeistertes Winseln, dichtes Fell, eine feuchte Nase und eine breite, warme Zunge, die ihm enthusiastisch übers Gesicht leckte! Thomas lachte befreit auf und versuchte, seinen Wolf ein wenig von sich fortzuschieben. Vergessen war all der Frust, all die Zweifel der letzten Stunden – da war er, sein Kumpel, und er war ganz wie immer!
Als der Gefühlsüberschwang abklang und Jonathan von ihm abließ, stand Thomas wieder auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Amüsiert beobachtete er den Wolf, der schnaubend und grimassenziehend die Zunge weit aus dem Maul hängen ließ und sie am nur eine Handbreit hoch gewachsenen Gras abzuwischen versuchte.
„Was ist los, Kumpel? Schmeck ich dir nicht?“
Jonathan warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, stieß die Luft durch die Nase aus und drehte ihm den Rücken zu.
„Okay, okay.“ Thomas ließ sich auf ein Knie hinunter. „Was auch immer ich angestellt hab, es tut mir leid. Ich bin da heute ja offenbar besonders gut drin.“ Trotz seiner Worte lächelte er. Das Auftauchen seines Wolfs hatte seine Laune beträchtlich gehoben.
Langsam trottete Jonathan zu ihm hinüber. Er berührte mit der Nase Thomas‘ Wange, dann schnaubte er wieder.
Nach einem Augenblick des Nachdenkens lachte Thomas laut auf und kraulte den Wolf hinter den Ohren. „Du magst das Rasierwasser nicht, richtig? Oh Mann, tut mir leid. Schmeckt bestimmt furchtbar!“
Mit einem zustimmenden Brummen schob Jonathan seine Schnauze unter Thomas‘ Achsel. Zuerst dachte der, der Wolf wolle sich auch noch über sein Deodorant beschweren, doch dann erkannte er die Geste.
„Ich hab dich auch vermisst“, murmelte er und zerzauste Jonathan behutsam das Nackenfell. Dann schob er den großen Wolf an dessen Schultern ein Stück von sich.
„Ich bin froh, dass du gekommen bist. Vorhin hab ich echt gezweifelt, ob ich morgen wirklich mitkommen soll, weißt du? Du musst mir unbedingt erklären, was heute alles schiefgelaufen ist. Kommst du mit zu mir und wir reden noch ein bisschen?“
Das fast vergessene und doch so vertraute Wuffen erklang und Jonathan machte sich ohne weitere Umstände auf den Weg. Thomas folgte ihm lächelnd. Er war unglaublich froh, dass der Tag doch noch eine Wendung zum Besseren für ihn parat hatte.
In tiefer Finsternis erreichten sie die Hütte. Sie hatten nicht viel geredet, was nur teilweise an Jonathans begrenzten Kommunikationsfähigkeiten lag – die einsetzende Dunkelheit hatte es Thomas erschwert, den Weg zu erkennen, sodass er seine ganze Aufmerksamkeit auf das Setzen seiner Füße lenkte. Sein Wolf hatte rasch bemerkt, dass die menschlichen Augen nicht mehr allzu viel nutzten, und war an der Seite seines Freundes geblieben, um ihm den Weg zu weisen.
Mit einer geübten Handbewegung angelte Thomas Streichhölzer und eine Lampe vom Brett neben der Tür und machte Licht. Dann griff er sich eine Decke, kniete sich vor seinen Wolf und legte sie ihm um. „Ich gehe wieder kurz raus, bis du dich verwandelt hast, okay?“
Zustimmendes Wuffen erklang und nur ganz knapp vor seinem Gesicht hielt die Wolfszunge inne. Jonathan rümpfte die Nase und ging wieder auf Abstand. Kopfschüttelnd und mit einem breiten Grinsen erhob sich Thomas und verließ die Hütte.
Die Nacht war kühl und sternenklar. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und sah auf die schemenhaften Umrisse, die er um seine Hütte herum gegen den dunklen Nachthimmel ausmachen konnte. Die Ruhe hier oben, die Dunkelheit, die Gerüche und gelegentlichen Geräusche waren ihm alle vertraut. Er genoss die Erholung vom Stress des vergangenen Abends, die ihm seine Zuflucht bot – und doch empfand er Vorfreude auf Neues, als hielte es ihn hier nicht mehr. Und dann erkannte er das Gefühl: Aufbruchsstimmung. Ob das hier seine letzte Nacht ohne Zukunftsperspektive war?
Er behielt das Lächeln bei, das ihm der Gedanke auf die Lippen legte, als er sich der geöffneten Tür zuwandte. Jonathan stand dort, die Decke locker um den Körper gewickelt, und erwiderte das Lächeln.
„Tut mir leid, dass das heute für dich so ...“ Kurz suchte er nach dem richtigen Wort, dann fiel ihm ein, wie Mareike es ausgedrückt hatte. „... stressig war. Ich weiß gar nicht genau, wo ich mit erklären anfangen soll.“
Thomas wedelte eine Stechmücke vor seinem Gesicht davon und grinste. „Kein Problem. Ich hab tausend Fragen. Gehen wir rein und ich stell sie alle.“