Sebastian sagte nichts, als Jonathan am Nachmittag nach Hause kam – die Miene seines Bruders verriet ihm, dass das Gespräch alles andere als gut verlaufen war. Wortlos ging er in die Küche, gab den Inhalt einer ganzen Packung M&Ms in eine Schüssel und füllte eine weitere mit schokolierten Cranberrys.
Im Wohnzimmer stellte er die Auswahl an Süßigkeiten auf den Couchtisch und griff nach dem zweiten Controller. Jonathan hatte bereits irgendein Videospiel angefangen. Immer wenn sein Bruder frustriert war, halfen ihm ‚Süßkram und zocken‘, wie er es ausdrückte. Sebastian war zwar nicht besonders gut in diesen Spielen, doch er wusste, dass es aktuell die beste Art war, Jonathan aufzumuntern. Und das wollte er nicht nur, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil er insgeheim froh über das Ende von Jonathans seltsamer Bekanntschaft war. Er war schon immer für seinen Bruder da gewesen, wenn er jemanden gebraucht hatte, und das würde sich, wenn es nach ihm ging, auch niemals ändern.
Lange Zeit lang bemühte Sebastian sich schweigend, Jonathan als halbwegs hilfreicher Mitspieler zu dienen, wenn er es auch kaum schaffte, dessen Spielfigur auch nur zu folgen, geschweige denn, sie im Kampf zu unterstützen.
Endlich brach Jonathan sein Schweigen. „Am liebsten würde ich raus gehen, ein großes Tier jagen.“
Es waren die ersten Worte, die er seit seiner Heimkehr sprach. Sebastian war dankbar für die Pause und legte den Controller weg – seine Daumen taten ihm nach einer Stunde wilden Knöpfedrückens weh.
„Das geht nicht, Jona“, erinnerte er ihn geduldig. „Die Jäger sind immer noch unterwegs.“
„Ich weiß.“ Resignierend warf auch Jonathan den Controller beiseite, ließ sich nach hinten ins Polster fallen und rieb sich über die Augen. „So ein Scheißtag.“
Tröstend legte Sebastian ihm eine Hand auf die Schulter. „Hey.“ Er zögerte einen Moment. „Was ist denn eigentlich passiert? Und warum liegt dir so viel an dem Mann in den Bergen?“
„Thomas.“ Jonathan seufzte und sah seinen Bruder an. „Sein Name ist Thomas. Immerhin das weiß ich jetzt. Aber mehr werde ich wohl kaum aus ihm rauskriegen, denn egal, was ich versuche, er lässt mich abblitzen. Und – ich weiß nicht, warum er mir wichtig ist. Er fühlt sich so ... vertraut an. Wie ein verloren geglaubter Cousin oder so was. Wie jemand, der zu uns gehören sollte, es aber einfach nicht versteht ...“ Seine Worte verklangen, als er sich in Gedanken verlor.
„Aber er ist kein Werwolf“, warf Sebastian ein. Das hätten sie beide schon bei ihrer ersten Begegnung gerochen.
„Nein“, stimmte Jonathan ihm zu. „Das ist ja das Seltsame.“ Dann stieß er schicksalsergeben die Luft aus und kuschelte sich an seinen Bruder. „Wie lange brauchst du hier noch? Wann fahren wir wieder heim?“
Überrascht legte Sebastian einen Arm um Jonathan. Er wollte also fort von hier? Noch vor wenigen Tagen schien er sich dessen nicht so sicher gewesen zu sein. Wie final war diese Entscheidung? Nachdenklich musterte er seinen Bruder, der an ihn geschmiegt dasaß. Sollte er die Frage stellen, die ihm seit Tagen im Kopf herumspukte?
Nein. Jonathan verliebte sich derartig selten, dass selbst Sebastian keine Ahnung hatte, ob er sich auch für Männer interessierte. Es ging ihn auch nichts an, solange sein Bruder nicht von sich aus darüber sprach. Jonathan schien verärgert, frustriert, aber er litt Sebastians Ansicht nach nicht unter Liebeskummer.
Er würde nicht fragen.
„Übermorgen“, beantwortete er die Frage und strich liebevoll über Jonathans Rücken. Wären sie in Wolfsgestalt, würde er ihn nun hinter den Ohren und an anderen Stellen lecken, an denen er sein Fell nicht selbst pflegen konnte, die Frustration durch Körperkontakt lindern, seine Wärme mit ihm teilen. Denn dass es diese Linderung war, die sein Bruder durch die Berührung gerade suchte, war für ihn völlig offensichtlich.
„Übermorgen fahren wir zurück“, wiederholte er seine Aussage.
„Gut. Ich will wieder nach Hause.“ Mit diesen Worten richtete Jonathan sich wieder auf, griff erneut nach dem Controller und startete ein neues Spiel.
Sebastian ließ ihn spielen, füllte die Süßigkeiten noch einmal nach und machte sich wieder an die Arbeit. Er würde dafür sorgen, dass sie so schnell wie möglich nach Hause, in die Normalität, zurückkehren könnten.
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Schweigend nahm Thomas zwei weitere Dosen aus dem Regal. Er schindete Zeit, das war ihm bewusst. Der Mann hinter der Kasse beobachtete ihn misstrauisch, weil er heute so untypisch lange brauchte, um seinen immer gleichen Einkauf zusammenzustellen. Außerdem war er zwei Wochen zu früh dran. Und normalerweise kam er nicht morgens, unmittelbar nach Öffnung des Ladens.
Bedächtig stellte er die Sachen auf dem Tresen ab, wartete, während sie in die Kasse eingegeben wurden.
„Einundzwanzig vierunddreißig“, informierte der Verkäufer ihn knapp. Auf Höflichkeiten verzichtete er schon lange. Thomas wusste, dass das seine Schuld war. Inzwischen schämte er sich ein bisschen dafür. Und er hatte sich damit unbewusst das jetzige Vorhaben selbst erschwert. Wie sollte er den Verkäufer in ein Gespräch verwickeln?
Thomas zählte das Geld ab, legte es auf die hölzerne Oberfläche des Verkaufstresens und wartete, bis der Mann nickte und schweigend zusah, wie Thomas die letzte Dose verstaute. Nervös spielten seine Finger mit dem Verschlussriemen des Rucksacks. Jetzt oder nie!
Ohne jegliche Vorrede stellte er seine Frage. „Gibt es hier im Ort einen Jonathan?“
Der Verkäufer war von seinen unerwarteten Worten offensichtlich überrascht. Für einen kurzen Moment glaubte Thomas, etwas wie Missbilligung über sein Gesicht huschen zu sehen.
„Nein“, antwortete der Mann knapp. „Ich kenne keinen Jonathan.“ Dann drehte er sich abrupt um und ignorierte Thomas.
Der war von der brüsken Reaktion überrascht. Einen Moment lang starrte er den Rücken des Verkäufers an und dachte nach. Es gab jedoch nichts, das er sagen konnte. Wortlos fügte er sich und verließ den Laden.
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Scheiße!
Thomas verfluchte sich innerlich selbst. Warum hatte er einen Tag verstreichen lassen, bis er sich endlich dazu durchrang, Jonathan zu suchen, sich zu entschuldigen und um eine Chance zu bitten, sich zu erklären? Wenn er ihm doch nur gleich gefolgt wäre oder ihn am Gehen gehindert hätte!
Nach dem Aufwachen heute Morgen war ihm die Erkenntnis klar vor Augen gestanden: Diese Chance bot sich ihm höchstwahrscheinlich nur dieses eine Mal. Wer wusste schon, ob jemals wieder jemand Interesse daran haben würde, ihn ohne Vorbehalte näher kennenzulernen?
Außerdem gab es etwas an Jonathan, das ihn faszinierte. An Gestaltwandlern im Allgemeinen. Der starke Wunsch, mehr über sie zu erfahren, ließ ihn nicht mehr los.
Frustriert fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar und sah sich ratlos um. Gab es noch eine andere Möglichkeit, Jonathan zu finden, als den Lebensmittelladen?
Natürlich! Er würde es bei der örtlichen Bankfiliale versuchen. Alles, was er dafür brauchte, war eine Geschichte, die ausreichend plausibel war, um die am Schalter diensttuende Person davon zu überzeugen, ihm die Adresse zu verraten. Auf dem Weg dorthin würde ihm ganz sicher etwas einfallen – im Improvisieren war er schon immer ziemlich gut!