„Was ist das mit den Werwolfeigenheiten, die man jedem ein bisschen anmerkt? Was meinst du?“
Zu Thomas Freude erschien ein breites Grinsen auf Jonathans Gesicht. „Wir sind halt einfach keine Menschen. In uns steckt auch Wolf – und manchmal kann man da nichts dagegen machen, egal, wie sehr man versucht, sich an die Menschen anzupassen.“ Er warf seinem Freund einen verschwörerischen Blick zu. „Ich hoffe, du siehst Sebastian mal, wenn ihm eine Katze über den Weg läuft. Er hasst Katzen. Und der Wolf in ihm will sie immer jagen.“ Er kicherte leise. „Kannst du dir vorstellen, wie lustig das aussieht, wenn die Herren Anwälte zusammen über die Straße gehen und einer auf einmal angestrengt versucht, den Jagdtrieb zu unterdrücken und nicht im Anzug der nächstbesten Katze nachzujagen?“
Sebastian war Anwalt? Na, das passte irgendwie zu ihm. Doch Thomas verschwendete keinen weiteren Gedanken daran: Die Vorstellung, wie der Leitwolf in Anzug und Krawatte quer durch diverse Gärten einer Katze nachjagte, war so absurd, dass er in Jonathans inzwischen ungehemmtes Lachen einfiel.
„Das würd ich gern mal sehen“, erwiderte er, als ihre Erheiterung abklang, und wischte sich Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Welche Werwolfeigenheit merkt man dir an?“
Schlagartig wurde Jonathan ernst und sah verlegen zu Boden, antwortete aber ohne Zögern. „Ich brauche auch als Mensch viel zu viel Körperkontakt. Darum halten mich die Leute so oft für komisch.“ Seine Kiefermuskeln spannten sich, bevor er mit fester Stimme erklärte: „Ich bin aber nicht schwul!“
Auch Thomas‘ Erheiterung war dahin. „Was wäre denn so schlimm daran?“
Diese Frage überrumpelte Jonathan völlig. Wusste Thomas das wirklich nicht?
„Na – die Leute. Jeder macht sich über dich lustig! Das fängt schon in der Schule an. Das Lieblingsschimpfwort auf meinem Schulhof war ‚schwul‘. Und fast immer war ich gemeint.“ Ein bitteres Lächeln huschte über seine Lippen. „Sebastian hat sich da ein paarmal echt heftig geprügelt, damit man mich in Frieden ließ. Als er angefangen hat, sich zu verwandeln, wurde er noch ein bisschen größer und stärker – da hatte ich dann endlich meine Ruhe. Na ja, bis er auf eine andere Schule kam.“ Wieder trank er einen Schluck, um seine trockene Kehle zu befeuchten. „Und in so einem kleinen Dorf – glaub mir, da willst du nicht den Ruf haben, schwul zu sein.“ Die Blicke, das Getuschel, die zweideutigen Bemerkungen und die Verachtung, die manche Menschen ihm entgegengebracht hatten, hatte sich tief in sein Gedächtnis gebrannt.
Mit dem restlichen Tee schluckte er auch die Erinnerungen an diese Zeit hinunter. Darüber wollte er jetzt wirklich nicht reden.
Doch Thomas war mit diesen Antworten nicht zufrieden. Himmel, konnte es sein, dass Jonathan und vielleicht sein Bruder, im schlimmsten Fall sogar das ganze Rudel, auf Minderheiten herabsahen? Solche Leute wollte er nicht besuchen, geschweige denn, zu ihnen gehören! Aber war das überhaupt möglich? Immerhin waren Werwölfe doch selbst eine Minderheit ...
Ach, Scheiße. Er würde einfach fragen. Besser, er erfuhr es sofort, als dass er sich tagelang Gedanken machte. „Hast du was gegen Schwule?“
Innerlich stählte er sich für die mögliche Antwort.
Die Härte in Thomas‘ Stimme überraschte Jonathan. Was sollte das denn? Darum ging es doch überhaupt nicht!
Er wollte gerade zu einer verärgerten Antwort ansetzen, als Thomas‘ Anblick ihn innehalten ließ. Dessen angespannte Haltung war wie die eines Wolfs, der sich noch nicht entschieden hatte, ob er angreifen oder fliehen sollte. Und in seinen Augen lauerte ... was war das? Misstrauen? Schmerz. Und Kampfbereitschaft. Für Thomas ging es genau um diese Frage. Warum verhielt er sich, als beträfe ihn das Thema persönlich?
Und plötzlich begriff Jonathan. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung.
„Weißt du, ich ... Nein, hab ich nicht! Das kann jeder für sich selbst entscheiden.“
Doch diese Worte waren wohl nicht die richtigen gewesen. Ein verächtliches Schnauben machte deutlich, was Thomas von dieser Aussage hielt. „Das entscheidet man nicht, Mann. Das hört sich ja an, als könnte man sich das aussuchen – heute so, morgen so!“
„Nein, nein!“, wiegelte Jonathan sofort ab, „So war das doch nicht gemeint!“ Frustriert fuhr er sich mit einer Hand durchs Haar. „Was ich sagen wollte war, dass das doch keinen was angeht. Jeder sollte sein können, wie er ist, ohne, dass irgendwer das beurteilt! Geht doch keinen was an, worauf man steht.“ Er warf Thomas einen zerknirschten Blick zu. „Wenn ich auf dich den Eindruck ... Also, falls du dachtest, ich ... also, wir ... Tut mir wirklich leid. Aber ich bin nicht schwul.“
So schnell, wie er sich aufgeregt hatte, kühlte Thomas‘ Wut auch wieder ab. Er glaubte Jonathan. Der hatte es nicht böse gemeint – nur seine Wortwahl fand Thomas einfach beschissen. Er seufzte und entspannte sich wieder. „Schon okay“, erwiderte er dann. „Ich auch nicht.“
„Oh. Sorry, ich ... ich dachte ...“
Die Röte, die schlagartig Jonathans Gesicht überzog, und dessen Verlegenheit ließen Thomas grinsen. „Schon klar. Ich mag dich, sehr sogar, aber nicht so. Ich bin einfach gern mit dir befreundet.“ Und da erkannte er, wie er das Vertrauen, das der Werwolf ihm entgegengebracht hatte, vergelten konnte. Er würde auch etwas Persönliches über sich erzählen. Etwas, das er bisher nur sehr wenigen Menschen anvertraut hatte, ganz gemäß der inoffiziellen Regel „Don’t ask, don’t tell“ – keiner fragt und man behält es für sich. Doch diese Regel galt nicht für Jonathan. Sein Freund würde es auch für sich behalten, da war er sich sicher. „So abwegig war der Gedanke gar nicht. Weißt du – ich hatte schon einige Beziehungen. Mit tollen Frauen.“ Er zögerte nur einen Moment, bevor er weitersprach. „Aber auch mit zwei, drei tollen Kerlen. Mir gefällt beides.“
„Oh.“ Die Röte auf Jonathans Gesicht wurde noch eine Spur tiefer und er blickte wieder zu Boden. Er schluckte. „Mir nicht“, gestand er kaum hörbar.
Normalerweise hätte Thomas diesen Kommentar als Erklärung dafür verstanden, dass Jonathan nicht bisexuell war. Aber in Kombination mit der Überwindung, die ihn diese Worte gekostet zu haben schienen und seinem Verhalten ... „Beides nicht, meinst du?“
Jonathan sah ihn nicht an. Er hatte Angst, in Thomas‘ Miene dasselbe Unverständnis zu entdecken, das ihm schon aus so vielen Gesichtern entgegengesehen hatte. Nicht einmal Sebastian begriff ihn wirklich, was Jonathan ihm nicht vorwarf. Er war sich ja selbst ein Rätsel. Warum nur fehlte ihm, was für andere so wichtig schien? Er wäre so gerne normal.
Nach einem Moment schüttelte er kaum merklich den Kopf.
Die Niedergeschlagenheit des Werwolfs berührte Thomas. Er wusste, wie es war, wenn man sich seltsam fühlte. „Das ist doch auch okay“, sagte er im Versuch, seinen Freund aufzumuntern.
Aber Jonathan schüttelte hoffnungslos den Kopf. „Das ist doch nicht normal! Ich bin ein Freak.“
Thomas schnaubte. „So ein Quatsch! Um mal ‘nen gewissen Freund von mir zu zitieren: ‚Jeder sollte sein können, wie er ist, ohne, dass das jemand verurteilt.‘ Richtig? Geht keinen was an. Und ‚normal‘ ist eh Definitionssache.“ Dann sah er Jonathan forschend an. „Wer sagt, du bist ein Freak? Behauptet das etwa dein Bruder?“
Endlich löste sich der Blick des Werwolfs vom Fußboden und er sah ihm in die Augen. „Nein! Wie kommst du denn darauf? Er ist der Einzige, der das weiß. Er findet es okay. Aber wenn andere das rausfinden, was werden sie wohl sagen? Ich will nicht wieder gemobbt werden, nur weil ich irgendwie anders bin ...“
Thomas hob die Schultern. „Er hat so eine Art, andere zu verurteilen, finde ich. Und du widersprichst ihm ja nie.“ Er verbarg seine Enttäuschung darüber nicht.
In diesem Moment wurde Jonathan klar, wie sein heutiges Verhalten auf den Menschen gewirkt haben musste. „Tut mir leid“, murmelte er. Wieder senkte er den Blick. Erst hatte er bezüglich der Spannungen zwischen seinem Freund und seinem Bruder nicht vermittelt, dann sich selbst als unterwürfig dargestellt, Sympathie fehlgedeutet und jetzt auch noch offenbart, wie seltsam er wirklich war. Versagen auf ganzer Linie.
„Schon okay“, brummte Thomas versöhnlich. „Ich versteh ja inzwischen, dass du gewohnt bist, die Entscheidungen deines Bruders hinzunehmen – aber du solltest auch deinen Freunden beistehen. Wär einfach schön, sich künftig nicht so alleingelassen zu fühlen.“
Ungläubig sah Jonathan ihn an. „Künftig? Das heißt, wir sind Freunde? Obwohl ich ... ich bin?“
Thomas sah ihn verblüfft an. „Aber klar!“
Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen. Dass ihm im Vergleich zum Werwolfdasein Asexualität viel weniger seltsam schien. Dass bisexuell auch nicht gerade als normal angesehen wurde. Doch er kam nicht dazu: Jonathan, der begeistert von seinem Hocker aufgesprungen war, drückte ihm mit seiner festen Umarmung beinahe die Luft ab.
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Es war spät, sehr spät, als Thomas Jonathan verabschiedete. Der beinahe perfekte Halbmond beleuchtete die Wiese vor der Hütte, sodass er seinem Wolf noch eine Weile nachschauen konnte.
Nach ihrem Gespräch war plötzlich alles wieder vertraut gewesen – und doch irgendwie anders. Unbeschwerter, als hätte sich etwas aufgelöst, das zwischen ihnen gestanden hatte. Sie hatten gescherzt, gelacht, sich Anekdoten aus ihrem Leben erzählt. Es hatte richtig Spaß gemacht.
Am meisten hatte Thomas allerdings Jonathans Verhalten gefreut. Dessen Haltung wirkte viel entspannter und er hatte die Decke nicht mehr so krampfhaft um seinen Körper festgehalten. Als würde er sich wohler fühlen, eine Art Schutzschild weniger hochhalten. Und vielleicht war es ja genau das? Das Vertrauen, das der Werwolf ihm schenkte, bedeutete Thomas viel.
Manchmal fragte er sich, ob es nicht ein bisschen seltsam war, sich den ersten Menschen, den man nach selbst gewählter Einsiedelei kennenlernte, als neuen besten Freund auszusuchen. Doch es fühlte sich mit Jonathan einfach richtig an. Sein Bauchgefühl sagte, dass sie noch viele so entspannte und lustige Abende erleben könnten, und er freute sich sehr darauf. Er mochte seinen Wolf, der ihn aus der Isolation geholt hatte, und war gespannt, auch das restliche Rudel kennenzulernen.
Und mit Sebastian würde er schon irgendwie klarkommen – und der mit ihm. Vorfreude breitete sich in Thomas aus: Vielleicht war es ja an der Zeit, dass jemandem dem großen Bruder mal sein Verhalten und seine Grenzen aufzeigte.
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Jonathan sprang leichtfüßig den Hang hinab in Richtung Dorf. Er wusste, dass er immer noch auf Jäger achten musste, sodass er sich die allzu ausgelassenen Hüpfer verbat, doch selbst der Gedanke an die Menschen, die hier auf der Lauer liegen könnten, trübte seine gute Laune kein Stück.
Er findet mich nicht seltsam! Er ist auch ein bisschen seltsam. Seltsam ist okay! Ich mag ihn! Wir sind Freunde! Richtige Freunde!
Glücklich schlüpfte er durch die Küchentür ins Haus, trabte in sein Zimmer, wurde Mensch und ließ sich ins Bett fallen, wo er voll Vorfreude auf die kommenden Tage einschlief.