Eine halbe Stunde lang erzählte Thomas von seiner Familie. Je mehr er berichtete, desto häufiger stahl sich ein Lächeln in sein Gesicht und desto lebhafter wurden seine Worte.
Wie an den bisherigen Abenden, die sie miteinander verbracht hatten, genoss es Jonathan, ihm zuzuhören. Einzig der Körperkontakt fehlte ihm, doch er akzeptierte schweren Herzens, dass es für Thomas einen Unterschied machte, ob er ihm als Mensch oder Wolf begegnete.
„Deine Eltern lebten, abgesehen von Familie und einigen Freunden, also eher zurückgezogen“, kommentierte er Thomas‘ Bericht nach einer Weile. „War das auch bei ihren Eltern und Geschwistern so?“
„Ja, diese Vorliebe haben sie wohl von meinen Großeltern übernommen. Die habe ich aber leider nie kennengelernt“, antwortete Thomas bedauernd. „Die einen kamen gemeinsam mit meiner Tante bei einem Autounfall um, und die anderen sind bei einer Segeltour an der Küste verschollen. Meine Familie ist bei so was wirklich vom Unglück verfolgt.“
Jonathan war nicht überrascht. Werwölfe erreichten selten ein hohes Alter – zu häufig gerieten sie in Auseinandersetzungen oder wurden gejagt. Dass Thomas‘ Vorfahren früh gestorben waren, passte neben den übrigen Details, der Naturverbundenheit und dem Bedürfnis zum Umweltschutz, perfekt zu seiner Theorie.
„Hast du sonst keine Familie mehr? Keine Onkel oder Tanten?“
Thomas warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Warum interessierst du dich so sehr für meine Familie? Wie sieht es denn mit deiner aus?“
Jonathan schmunzelte. „Ja, du hast schon recht, ich frage dich aus. Es interessiert mich, weil Familie für mich wichtig ist. Ich habe nur noch meinen Bruder Sebastian, den kennst du ja schon. Mein Vater starb, als wir noch sehr klein waren, und meine Mutter vor einigen Wochen. Wir sind hier, um uns um die Erbschaft zu kümmern – ihr gehörte das Haus unten im Ort.“ Dann sah er Thomas ernst an. „Aber meine Fragerei hat einen weiteren Grund. Ich frage mich, ob du ...“
Er wusste nicht genau, wie er es formulieren sollte, und zog mit einem frustrierten Seufzen die Decke enger um seine Schultern. Langsam wurde ihm trotz der Decke ein wenig kühl.
Die Leichtigkeit, die ihre Unterhaltung in den letzten Minuten bestimmt hatte, war auf einmal verflogen. Thomas sah ihn verletzt an.
„Ob ich was? Ob ich durch die Tode einen Schaden davongetragen habe? Hältst du mich auch für gestört?“
Ärger wallte in ihm auf. Hätte er Jonathan doch nur nichts von all dem erzählt – nun, da er die Wahrheit kannte, misstraute auch er ihm!
„Nein!“ Jonathans unterbrach Thomas‘ Gedanken mit entschiedenen Worten. „Gib mir einen Moment, es zu formulieren. Aber es hat ganz sicher nichts damit zu tun, glaub mir. Du wirkst auf mich nicht instabil oder so was – du hast dir eine Auszeit genommen, weil du sie gebraucht hast, nichts weiter. Es ist gut, dass du deine Grenzen erkennst, das tut leider nicht jeder.“
Hoffentlich hatte er damit die richtigen Worte gefunden – Jonathan wollte nicht, dass auch dieses Gespräch frustriert abgebrochen wurde, weil sie einander völlig missverstanden.
Thomas aber betrachtete Jonathan, der mit gerunzelter Stirn auf dem Hocker saß und anscheinend angestrengt nachdachte, weiterhin misstrauisch. Ob er überlegte, wie er sich elegant aus der Affäre ziehen und das Gespräch beenden konnte? Seine Worte hatten ehrlich geklungen, doch seine Körperhaltung war angespannt.
Thomas wusste wirklich nicht, was er von der Sache halten sollte. Was außer der üblichen Abfuhr könnte so schwierig zu formulieren sein, dass der andere darüber nachdenken musste?
Dann erklärte Jonathan mit bedachten Worten seine Theorie. „Seit du mich vom Geröllfeld gerettet hast, fühlst du dich für mich seltsam vertraut an.“
Jetzt wurde Thomas hellhörig – es ging ihm ähnlich, zumindest mit Jonathan in Wolfsgestalt.
„Darum bin ich auch immer wieder hergekommen“, fuhr Jonathan fort. „Ich wollte dich besser kennenlernen, Zeit mit dir verbringen. Ich konnte mir bislang nicht erklären, warum das so ist. Aber ich habe inzwischen eine Theorie. Du erinnerst dich, dass das Werwolfdasein vererbt wird, richtig?“ Er wartete Thomas‘ Nicken ab, bevor er fortfuhr. „Nicht jedes Kind eines Werwolfs ist selbst einer. Aber oft haben sie trotzdem die Gene dafür. Meine Mutter war vermutlich so jemand. Im Englischen hat sich unter den Werwölfen für solche Leute der Begriff ‚Kinfolk‘ entwickelt, und wir benutzen ihn auch. Kinfolk weiß üblicherweise von unserer Existenz, fürchtet sich nicht so wie reine Menschen – und sehr oft werden sie als Teil des Rudels angesehen. Je mehr ich dir zuhöre, desto mehr vermute ich, dass ein Teil deiner Vorfahren Werwölfe waren – und deine Eltern Kinfolk. Das würde auch dieses besonders ausgeprägte Zusammengehörigkeitsgefühl erklären, das du mit deinen Eltern und deren Freundeskreis geteilt hast. Ihr wart ein Rudel.“
Einen Moment lang starrte Thomas ihn einfach nur an, bevor er die Stille mit einem erstickten Auflachen brach. „Nein. Das hätten sie mir erzählt!“ Doch trotz der entschiedenen Worte klang auch ein Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme mit.
„Nicht unbedingt“, erwiderte Jonathan. „Je weniger du weißt, desto sicherer bist du. Es gibt immer noch Werwolfjäger, Thomas. Und einige von denen würden am liebsten jeden, der auch nur die Gene tragen könnte, auslöschen – und es dann unauffällig als beispielsweise Autounfall hinstellen.“
„Willst du sagen, ich könnte Werwolfgene haben?“
Jonathan nickte. „Falls das stimmt, würde das auch erklären, warum du die Gemeinschaft deiner Kameraden so vermisst. Du sehnst dich nach einem Rudel, zu dem du gehören kannst, hast aber lange keines gefunden. Dabei brauchen Werwölfe Körper- und Sozialkontakt sogar noch dringender als Menschen.“
Es wäre außerdem eine elegante Erklärung für die seltsame Anziehung, die Thomas auf ihn ausübte. Die war Jonathan immer noch ein Rätsel.
„Das kann doch alles nicht wahr sein ...“
Mit einem gequälten Seufzen beugte Thomas sich vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und barg das Gesicht in den Händen.
Er hatte gedacht, Jonathan habe seine Weltanschauung vor einigen Tagen bereits auf den Kopf gestellt, als er von der Existenz von Gestaltwandlern erfuhr, doch wie sich herausstellte, gab es da noch viel mehr. Wie sollte er das alles nur in seinen Kopf bekommen?
War das alles überhaupt möglich? Konnte es sein, dass seine Eltern ihm einen so wichtigen Teil der Familiengeschichte vorenthalten hatten? Wie hätten sie ihn, angenommen, Jonathans Theorie traf zu, damit schützen können?
Wer nichts wusste, konnte noch nicht einmal versehentlich etwas ausplaudern.
Doch tief in seinem Innern glaubte etwas an Jonathans Theorie. Daher fiel es ihm nicht schwer, es als normal zu akzeptieren, als Jonathan sich neben ihn auf die Bettkante setzte, ihm mitfühlend einen Arm um die Schultern legte und ihn leicht an sich zog. Etwas in ihm genoss den Körperkontakt sogar.
Vielleicht war er ja wirklich ... Kinfolk.