„Willkommen.“ Mit einem einladenden Lächeln öffnete Jonathan die Wohnungstür und ließ Thomas in den geräumigen Flur eintreten. „Das hier ist der zentralste Ort der Wohnung. Das da“, er deutete auf eine Tür, „ist das Badezimmer. Hier ist mein, dort Matthias‘ Zimmer, da die Küche. Und im Wohnzimmer“, er wies auf eine Tür mit Glaseinsatz, hinter der flackerndes Bildschirmlicht und eine Unterhaltung hervordrangen, „ist Matthias offenbar gerade am Zocken.“
Thomas setzte seinen Rucksack ab und sah sich um. Das ganze Gebäude machte einen schon etwas älteren, aber gepflegten Eindruck, der sich in dieser Wohnung hier wiederfand. Die Garderobe, die herumstehenden Schuhe und das Regal, das an einer der Flurwände einen Platz gefunden hatte, verliehen dem Raum ein halbwegs ordentliches und doch bewohntes Aussehen. Hier konnte man sich durchaus wohlfühlen, realisierte er erleichtert. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Aussicht, in einer fremden Umgebung zu übernachten, ihn ein wenig nervös gemacht hatte. Er war wirklich nichts mehr gewöhnt.
Jonathan legte ihm eine Hand auf die Schulter und riss ihn damit aus seinen abschweifenden Gedanken. „Wie gesagt, du kannst wirklich gern erst ein bisschen deine Ruhe haben, wenn du willst. Komm!“ Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und schaltete auch dort das Licht ein.
Neugierig folgte Thomas ihm. Der Raum, den er betrat, war nur etwa so groß wie der Flur, aber geschickt eingerichtet. Eine Ecke wurde von einer Kombination aus Schreibtisch und Hochbett dominiert. Gegenüber der Tür, flankiert von zwei hellen Schränken, befand sich ein großes Doppelfenster, das bei Tageslicht einen Blick über das kleine Wäldchen auf der anderen Straßenseite hinweg und ein Stück in die Ferne bot. Mit dem winzigen Sofa an der dritten Wand, auf dem höchstens zwei Personen Platz fanden, war der Raum auch schon voll.
„Gefällt mir“, kommentierte er ehrlich und unterdrückte mühsam ein Gähnen. „Lass uns Matthias Hallo sagen. Ich glaub, wenn du mich hier allein lässt, schlaf ich einfach ein. Der Tag war ganz schön lang.“
„... und die Nacht davor ziemlich kurz“, ergänzte Jonathan grinsend. Dann gähnte er völlig unverhohlen. „Mir geht’s ähnlich. Also los.“
Matthias schenkte ihnen ein kurzes Lächeln, als sie das Wohnzimmer betraten, fokussierte sich dann jedoch sofort wieder auf den großen Fernseher. Dort lief gerade eine Kampfszene zwischen einem mythologischen Monstrum und einer Männerfigur, die den Traum jedes Bodybuilders zu verkörpern schien. Ungefähr eine Minute später hatte die Figur das seltsame Wesen besiegt, das in einer großen Blutlache theatralisch verendete. Ein Speicherdialog überlagerte das Bild, dann legte Matthias den Controller weg und stand auf.
„Sorry, ich war gerade mitten in einem Kampf“, erklärte er mit einem um Verzeihung heischenden, charmanten Lächeln. „Danke für die Geduld.“ Dann streckte er Thomas die Hand entgegen. „Hi Thomas! Ich bin Matthias. Schön, dich kennenzulernen!“
Thomas lächelte und schlug ein. Der junge Mann war ihm sofort sympathisch. „Freut mich ebenfalls. Du warst es, der Jonathan zum Briefschreiben motiviert hat, richtig? Danke dafür!“
Jonathan, der sich inzwischen in die Kissen auf einer Seite des Ecksofas hatte sinken lassen, grinste verlegen.
„Gern geschehen“, antwortete Matthias strahlend. „Willst du was trinken? Oder ein paar Snacks? Einen ...“ Er warf einen Blick auf die Uhr, bevor er sich wieder Thomas zuwandte. „... Mitternachtsimbiss? Ich glaube, wir haben noch so kleine Aufbackpizzas.“
Vehement schüttelte Thomas den Kopf. „Oh, bitte nicht! Wasser gern, aber nichts zu essen.“
Matthias wandte sich an Jonathan. „Und du?“
Der seufzte, grinste dann. „Alter, ich bin so ein mieser Gastgeber! Lass mal, ich hol was.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, stand er auf und trottete in die Küche.
„Keine Sorge“, sagte Matthias mit einem Augenzwinkern zu Thomas, „er ist nicht immer so.“
Thomas lachte. „So müde?“
„Abends normalerweise nicht. Wir zocken manchmal so lange, dass wir morgens kaum aus dem Bett kommen. Besonders schlimm, wenn man am nächsten Morgen ’ne komplizierte Vorlesung hat.“
Das weckte Thomas‘ Neugierde.„Was studierst du denn?“
„Elektrotechnik.“ Matthias seufzte. „Falls ich Mathe schaffe. Ich darf die Klausur nur noch einmal wiederholen.“
„Und wenn du durchfällst?“
Matthias zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Dann war’s das wohl mit dem Studium. Ich glaube nicht, dass meine Eltern mir noch ein zweites finanzieren.“ Die Sorgenfalte auf seiner Stirn verschwand so schnell, wie sie gekommen war. „Aber das sehen wir dann! Noch hab ich ja Zeit zum Lernen.“ Er schob den Controller und eine Chipstüte beiseite, da Jonathan mit einem Tablett mit Gläsern und zwei Kannen Wasser zurückkam und es auf dem Tisch abstellte.
„Hast du hier irgendwas vor außer Jonathan zu besuchen?“, erkundigte sich Matthias bei Thomas.
Der setzte schon zu einer Antwort an, hielt dann aber inne: Matthias war kein Kinfolk. Er konnte ihm also schlecht vom Rudel erzählen. Was sollte er sagen, das halbwegs plausibel klang? Dass er Jonathans Freunde treffen wollte? Nannte der sie überhaupt Freunde? Verdammt, er war nicht tief genug in dieser Werwolfwelt drin, um glaubhaft um die Wahrheit herumzureden!
Jonathan bemerkte sein Zögern sofort und sprang ihm beiseite. „Er überlegt, ob er vielleicht herziehen wird, kennt außer mir und Sebastian aber keinen. Also wollte ich ihm ein paar Leute vorstellen. Man weiß nie, was für Bekanntschaften sich ergeben. Zusammen wissen wir außerdem mehr über Wohnungs- und Jobsuche oder Sportvereine und so zu erzählen.“
Matthias nickte verständnisvoll. „Das stimmt.“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Thomas. „Und was zieht dich hier in diese Gegend?“
Der lächelte höflich, bevor er einen Schluck Wasser trank, um etwas mehr Zeit zum Überlegen zu haben. „Ich versteh mich gut mit Jonathan“, antwortete er dann. „Und sonst zieht es mich nirgendwo hin. Warum also nicht?“
„Cool.“ Matthias genügte diese Antwort offenbar. Er trank sein Glas aus, als Thomas verhalten gähnte, und stand auf. „Ich geh dann mal ein bisschen lernen. Schlaf gut!“ Dann drehte er sich zu seinem Mitbewohner. „Kommt morgen dann jemand her oder geht ihr weg?“
Jonathan zuckte müde mit den Schultern. „Das weiß ich noch gar nicht.“
„Okay. Ich bin wahrscheinlich eh nicht da, sondern im Makerspace. Also – schlaft gut!“
Nachdem Matthias gegangen war, lümmelten Thomas und Jonathan noch ein paar Minuten auf dem Sofa herum. Thomas war inzwischen unglaublich müde, genoss aber die stille Zweisamkeit, die keine Forderungen an ihn stellte, sondern nur Gesellschaft bot.
„Was ist ein Makerspace?“, fragte er nach einer Weile, ohne sich zu bewegen.
„Da baut man Zeug“, antwortete Jonathan ebenso träge. „Matthias ist ein echter Bastler. Nicht nur mit Elektronik, auch so.“
Wieder entstand Schweigen zwischen ihnen. Thomas fiel es langsam schwer, die Augen offenzuhalten. Doch bei Jonathan war das okay.
„Na komm.“ Die Stimme seines Freundes holte ihn aus der Welt zwischen träumen und wachen. „Du schläfst mir hier gleich ein. Lass mich kurz das Sofa vorbereiten. Zieh mal die Füße hoch.“
Mit nur wenigen Handgriffen zog Jonathan Bettwäsche aus einer Schublade unter der Sitzfläche hervor, dann betätigte er einen Klappmechanismus, um die Liegefläche zu vergrößern. Thomas sah müde zu, wie er Kissen und Decke bezog, ein Laken auf dem Sofa bereitlegte und das Bettzeug darauf drapierte.
„Voilà!“, sagte Jonathan zum Abschluss seiner Arbeit. „Bitte fühl dich ganz wie zuhause. Wo das Bad ist, weißt du ja – ich lege dir da noch ein rotes Handtuch auf die Waschmaschine. Wasser und dein Glas sind auch noch hier. Fehlt dir noch was?“
„Nein. Wunschlos glücklich“, murmelte Thomas. Dann lächelte er. „Gute Nacht, Kumpel.“
„Schlaf gut, Sanitäter“, erwiderte Jonathan und berührte seinen Freund kurz an der Schulter, bevor er ihn allein ließ und in sein Zimmer ging.
Mit einem zufriedenen Seufzen legte Thomas sich unter die Decke. Einen Augenblick, bevor er einschlief, erinnerte er sich an Jonathans Aufforderung und lächelte.
Er fühlte sich tatsächlich fast wie zuhause.