Kaum hatten sie das Gartentor hinter sich geschlossen, lachte Mareike erleichtert auf.
„Mann, das war knapp! Sebastian hat gerade wirklich schlechte Laune!“ Sie warf Thomas ein Lächeln zu. „Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang und unterhalten uns. Ich muss dir ganz dringend ein paar Sachen erklären!“
Obwohl ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck eindeutig freundlich waren, kam Thomas sich getadelt vor.
„Da bin ich mal gespannt“, murmelte er. „Ich versteh überhaupt nicht, was hier schon wieder schiefläuft.“
Mareike schnaubte amüsiert. „Das kann ich mir vorstellen. Es muss wirklich schwierig sein, wenn man so gar nichts von diesen Dingen weiß.“ Dann grinste sie Thomas aufmunternd zu. „Aber das kriegen wir schon hin, keine Sorge! Soll ich dir zuerst erklären, wie du mit Sebastian umgehen solltest, oder willst du mir zuerst Fragen stellen? Oder du erzählst mir, wie eure bisherigen Treffen so waren und ich kommentiere?“
Thomas lachte. Er mochte Mareikes direktes Wesen, die Art, wie sie Vorhaben anpackte.
„Erst mal ein paar Fragen“, antwortete er. „Wer genau bist du? Wie hängst du in diesem ganzen ... Freundeskreis ... drin?“
„Oh, das ist eine gute Frage.“ Sie nickte ihm anerkennend zu. „Meine Eltern sind beide Kinfolk. Ich und meine Schwester auch. Über meine Mutter bin ich mit einem verwandt.“
Kurz war Thomas irritiert. Einem ... Werwolf? Vermutlich. Er musste unbedingt mehr über das Vokabular lernen!
„Ist ‚Kinfolk‘ ein Begriff, den man ...“ Er sah sich kurz um, doch sie waren allein auf dem Gehweg. „... den man in der Öffentlichkeit benutzen kann? Oder wenn Mike dabei ist?“
Nachdenklich biss sich Mareike auf die Lippe und wiegte den Kopf. „Das hängt von der Situation ab“, erklärte sie dann. „Hier, wo uns mit hoher Wahrscheinlichkeit niemand zuhört, schon. Vor Mike nicht – er ist wirklich nicht dumm, und er würde sich so seine Gedanken machen. Eigentlich vermeiden wir es generell, vor ihm über diese Dinge zu reden. Wir sprechen höchstens von unseren Familientreffen – da meine Eltern mit dabei sind, hat er sich bislang nie gewundert. Und die sehr komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Jonathan und mir haben ihn bisher nicht so im Detail interessiert.“
Thomas hob die Augenbrauen. „Ihr seid verwandt?“
Aufmerksam sah sie nach beiden Seiten, bevor sie die Hauptstraße überquerten und einer Seitenstraße bergauf folgten. Dann grinste sie ihn breit an. „Nö. Aber niemand fragt genau nach, wenn wir behaupten, wir seien Cousins fünften Grades oder so.“
Das entlockte Thomas ein Schmunzeln, bevor er ernst wurde. „Bitte erklär mir, was ich gemacht hab, das Sebastian verärgert. Ich leg’s echt nicht drauf an, aber irgendwie verstehen wir uns nicht.“
Sie nickte. „Unterbrich mich, wenn was unklar ist, okay?“
Er stimmte mit einem Nicken zu und lauschte aufmerksam ihren Worten, während sie erneut abbogen und eine Art Fußgängerzone betraten, in der noch einiges los war.
„Noch näher als in einem Rudel stehen sie sich eigentlich nur innerhalb einer Familie. Und jede Familie hat ein Leittier. Bei den Ganzingers ist das Sebastian.“
„Das ist mir schon aufgefallen“, brummte Thomas. „Jonathan macht ja scheinbar nichts, wenn der nicht damit einverstanden ist.“
Mareike nickte ernst und senkte ihre Stimme noch weiter. „Genau so ist es, wenn bei den beiden auch etwas komplizierter. Aber in einem Rudel ist Hierarchie allgemein sehr wichtig. Das musst du unbedingt beachten. Man sollte nichts tun, das einen Anführer ernstlich verärgert oder herausfordert, wenn man nicht auf einen Machtkampf aus ist.“
Ein spöttisches Auflachen von Thomas erklang. „Und was ist es jetzt, mit dem ich ihn verärgert hab?“
„Du hast ohne seine Erlaubnis sein Territorium betreten.“ Der Blick, den sie ihm zuwarf, zeigte, wie gravierend dieser Verstoß sein musste. „Er ist der Anführer dieser Familie. Du bist einfach in den Garten gegangen. In sein Revier.“
Oh, verdammt. Das leuchtete Thomas ein. Er war quasi in eine Sperrzone eingedrungen, ohne sich vorher anzukündigen. Scheiße. Dann ergab auch das Verhalten der anderen Sinn. „Deshalb habt ihr mich erst begrüßt, nachdem er mich willkommen geheißen hatte“, konstatierte er, während er die Fassaden der Gebäude musterte, die sie passierten.
Mareike, die ihm ihre ganze Aufmerksamkeit widmete, lächelte erfreut. „Ganz genau! Hätten wir das nicht abgewartet, hätten wir damit gezeigt, dass wir ihn nicht als Anführer akzeptieren. Es wäre quasi eine Herausforderung zu einem Kampf um die Rangordnung gewesen.“
Thomas blieb abrupt stehen. „Halt!“
Überrascht sah sie ihn an. „Was denn?“
Er lächelte und deutete auf das Gebäude zu ihrer Rechten. „Hier ist die Pizzeria.“
Während sie auf ihre Bestellung warteten, erzählte Mareike auf Thomas‘ Bitte hin ein wenig von sich, ihrer Arbeit als Erzieherin und der Gegend, in der sie wohnte – unverfängliche Themen, die keinen zufälligen Passanten verwundert hätten. Er war ein guter und interessierter Zuhörer, sodass die Zeit rasch verging.
„Wie sollte ich mich Sebastian gegenüber verhalten?“, fragte Thomas, als sie die Pizzaschachteln zurück zum Haus trugen.
Mareike ließ sich mit der Erwiderung Zeit, doch er drängte sie nicht. Ab und zu warf er ihr einen neugierigen Blick zu, wartete jedoch geduldig.
„Sie sind viel emotionaler als wir, auch, wenn sie das in dieser Form zu unterdrücken versuchen“, antwortete sie dann. „Manchmal bricht es aber doch einfach aus ihnen raus, und das kann gefährlich werden. Du bist Gast in seinem Revier. Zeig ihm, dass du das weißt und respektierst. Du musst vermeiden, ihn herauszufordern, wie du es vorhin im Wohnzimmer fast getan hast.“
Überrascht öffnete Thomas den Mund, um ihr zu widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn die Herausforderung so offensichtlich gewesen war, musste er sich stärker kontrollieren.
„Muss sich Kinfolk den ... anderen ... immer unterordnen?“
Wieder schwieg Mareike einige Zeit und dachte nach.
„Du blutest“, informierte Thomas sie nach einer Weile.
„Ja, ja“, erwiderte sie geistesabwesend und leckte sich über die aufgebissene Lippe. Offenbar war sie das gewöhnt, denn sie kümmerte sich nicht weiter darum. „Um ehrlich zu sein – fast immer ist das so, ja. Wir sind ihnen körperlich nicht gewachsen. Falls unser Freundeskreis dich allerdings aufnimmt, hast du Glück – sie gehören zu denen, die ihre Überlegenheit nicht bewusst ausspielen.“
Dass sie ehrlich antwortete, rechnete Thomas ihr hoch an. „Ist das nicht trotzdem Unterdrückung?“, fragte er weiter.
Sie lächelte hilflos und hob die Schultern. „Ja, schon. Aber so ist die Welt eben. Sie sind temperamentvoll, insbesondere um Vollmond herum – und große Hasenfüße während Neumond. In der Zeit passen wir auf sie auf, nicht umgekehrt. Es gleicht sich also schon irgendwie aus. Aber nüchtern betrachtet hast du natürlich Recht – es ist die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken. Trotzdem ... wir ergänzen einander, das wirst du schon noch sehen.“
Gern hätte Thomas weiter mit ihr darüber gesprochen, doch sie bogen bereits in die Straße ein, in der das Haus der Brüder lag, sodass er die wichtigeren Fragen vorzog.
„Mareike – wie soll ich mich Jonathan gegenüber verhalten? Er ist irgendwie komisch, seit ihr hier seid.“
Kurz warf sie ihm einen aufmerksamen Blick zu, wandte die Augen dann wieder auf den Weg. „Er ist kein besonders ranghoher Wolf. In anderen Kreisen müsstest du dennoch auch ihm gegenüber zeigen, dass du die Hierarchie achtest – aber nicht bei uns. Wir und sie begegnen uns eigentlich auf Augenhöhe, wenn es sich nicht grade um die Anführer handelt.“ Dann sah sie ihn doch an. „Inwiefern verhält er sich komisch?“
Nachdenklich verzog Thomas das Gesicht. Er mochte Mareike und sie kam ihm vertrauenswürdig vor. Dennoch betraf diese Frage etwas Privates, nämlich seine Freundschaft mit Jonathan, und das ging eigentlich niemanden etwas an. Wie viel erzählte man sich wohl innerhalb eines Rudels?
Ach, er würde es riskieren. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Mareike ihm vielleicht weiterhelfen könnte. „Ich hab ihn noch nie so distanziert erlebt“, antwortete er daher. „Er war viel offener und herzlicher, als wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Sie lächelte. „War er? Gib ihm Zeit“, riet sie ihm dann. „Er muss wahrscheinlich erst herausfinden, was Sebastian von dir hält, bevor er weiß, wie er dir gegenüber vor ihm auftreten kann.“
Unzufrieden verzog Thomas die Lippen. „Geht es bei ihm immer nur um seinen Bruder?“
Mareike blieb vor dem Gartentor stehen und sah ihm offen ins Gesicht. „Ja“, erklärte sie dann fest. „Er ist für ihn der wichtigste Bezugspunkt überhaupt. Wenn ich dir einen Rat geben darf – komm da nicht dazwischen.“
Sie musste ihm seine Verblüffung ansehen, denn sie fügte an: „Lass es dir von ihm erzählen, dann verstehst du es bestimmt.“