Deutsch war irgendwann in die Position meines Lieblingsfaches gefallen. Nachdem die Zeit von Diktaten und Grammatik dem Textverständnis wich. Deshalb hatte ich vor der Abschlussklausur auch keine Angst.
Ich schrieb also brav an der Freitextaufgabe. Zu jener Zeit war ich längst nicht so gefestigt in meinem Schreibselbstbewusstsein wie heute, aber Freitext hat mir trotzdem viel Spaß gemacht.
Die Zeit tickte voran und die besonders strenge Lehrerin meiner letzten Schuljahre trat zu mir. Ich mochte sie echt gerne. Sie war streng, aber vor allem auch fair, und hat ihre Schüler immer dazu gedrängt, das Beste aus sich herauszuholen. So im Nachhinein betrachtet verdanke ich ihr sehr viel.
Jedenfalls hatte sie mich während der Klausur im Auge. "Du denkst daran, auch die Blätter zu machen?"
Mein Blick fiel auf einen Stapel Papier in Klarsichtfolie. "Ja, klar, das wird schon."
Neben mir saß übrigens eine Bekannte. Ein jüngeres Mädchen mit einer geistigen Behinderung, die ihr Zusammenfassen und das Ziehen logischer Schlüsse erschwert. Sie ist sehr langsam und eigentlich mit jeder Aufgabenform in Richtung Interpretieren überfordert. Also wirklich langsam - das ist leider wichtig im weiteren Verlauf. Sie war nie in meiner Klasse.
Ich beendete also meine Freitextaufgabe und nahm mir das erste Blatt. Deutsch. Kann ja nicht so schwierig sein.
Allerdings waren die ersten Aufgaben sehr komisch. Ungefähr so was:
1987 wurde die erste Käserei errichtet.
A Wohin zogen die Esel den Karren? Antwort:
B Was aß der Bauer zu Mittag? Antwort:
C Am See stand ein Lagerhaus. Antwort:
Na gut. Überspringen wir die Aufgaben erst einmal und machen weiter. Es gab ein paar Lückentexte, die etwas einfacher waren. Man musste nur die richtigen Wörter eintragen, obwohl auch hier manches gar nicht zu passen schien, anderes dafür überall, aber man durfte nur eine Lücke wählen ...
Ich blätterte durch die Seiten mit Aufgaben. Es waren 12 oder mehr. Beidseitig bedruckt.
Das vorhin erwähnte Mädchen neben mir hatte zusammengepackt und sah mich an. Sie wartete auf mich.
"Du kannst ruhig schon abgeben", flüsterte ich ihr freundlich zu.
Sie ging und ich atmete auf. Immerhin würde ich nicht mehr unter Beobachtung stehen.
Verzweifelt überflog ich die Seiten. Meine besorgte Deutschlehrerin kam vorbei und runzelte die Stirn, wieso ihr Einserkandidat noch nicht fertig war.
Nur noch ein paar Minuten. Ich suchte nach Aufgaben, bei denen ich keine Zeit zum Nachdenken verschwenden würde, und schrieb, so schnell ich konnte. Der Kugelschreiber war fast leer, was das alles auch nicht besser machte. Aber vor allem starrte ich manche Aufgaben einfach nur verständnislos an. Die waren wie dieses Matheaufgaben-Meme ("Ein Bauer hat sieben Äpfel. Drei Birnen verschenkt er. Wie viel wiegen die Erdbeeren?"), nur eben für Deutschunterricht.
In dieser Klarsichtfolie waren immer mehr Blätter. Dann war die Zeit um und meine Lehrerin stand direkt vor mir. Sie nahm die Blätter auf.
"Was machst du denn? Na, egal, das ist ungefähr ein Drittel. Das reicht bestimmt noch ... oh, das hier ist schonmal falsch. Ich hoffe, es kommen genug Punkte zusammen."
"Ist nicht so wichtig." Ich wollte nur noch raus. Mit einem nervösen Lachen blätterte ich durch die Aufgabenzettel. "Ich habe mir nicht mal alle Seiten ansehen können. Was kommt denn da noch? Oh, Sudoku mit Buchstaben! Das mag ich. Schade, das hätte ich gerne noch gemacht, aber das hätte ich auch zeitlich nicht geschafft."
Ich hatte immerhin mein Bestes gegeben.
In Begleitung meiner Lehrerin strömte ich bald mit allen anderen Schülern aus dem Raum. Die Deutschlehrerin blätterte durch die Seiten.
"Marvin, das ist viel zu wenig", sagte sie besorgt. "Ich glaube, das reicht nicht einmal für eine Fünf."
Na gut. Dann hatte ich halt mal eine Prüfung nicht bestanden.
Das müsste ich nur meinen Eltern erklären. Die warten draußen darauf, mich für meine gute Leistung in meinem Lieblingsfach zu beglückwünschen.
"Ich glaube nicht, dass ich da noch irgendwas retten kann", fährt die Lehrerin besorgt fort. "Das wird deine gesamte Note herabziehen. Das verbaut dir die gesamte Zukunft."
Ach ja. Das war die Abschlussklausur. Die letzte Klassenarbeit meiner Schullaufbahn. Die entscheidende Klausur.
Mit einem Mal spürte ich Tränen brennen.
"Wir müssen doch irgendwas tun können", murmelte meine Lehrerin.
"Ich weiß auch nicht, was passiert ist", gestand ich leise. "Ich bin einfach nicht voran gekommen. Ich habe geschrieben und geschrieben, aber es ging einfach nicht."
Und jetzt ... war die Zeit um.