"Vielen Dank, dass Sie sich bereiterklärt haben, mit uns zu reden." Ich schenke der würdevollen Dame ein freundliches Lächeln, während sie einen schweren Ordner auf den Tisch legt. Der klapprige Gartentisch aus Metall ächzt leise unter dem Gewicht. Ich versuche, Dreck von der Tischplatte zu wischen, doch die verrosteten Stellen sind zu hartnäckig. Uralte Baumpollen und Erde sind eine unheilige Verbindung eingegangen.
"Es wird Zeit, die Geschichte zu erzählen", sagt Adelaide und schlägt den Ordner auf. "Immerhin bin nun nur noch ich von unserer Clique übrig. Und wo sich zwei so talentierte Autoren gefunden haben, um die Geschichte zu erzählen, muss ich die Gelegenheit ergreifen."
Mein bester Freund und ich lehnen das Lob stammelnd ab. Ich lege mein Notizbuch auf dem Tisch ab, Lian zückt das Aufnahmegerät.
Ich räuspere mich und vergewissere mich mit einem Blick, dass meine Gesprächspartnerin bereit ist. "Es muss damals schrecklich für Sie gewesen sein."
"Oh ja, das kann man so sagen. Der Strand war nie wieder derselbe, nachdem so viele dort ertrunken sind", beginnt Adelaide. Sie nimmt das erste Dokument aus dem Ordner. Es ist ein uraltes Foto einer Gruppe von sieben Jugendlichen, die in die Kamera grinsen. Man sieht Pärchen, die sich aneinander klammern, zwei Jungen boxen sich, ein dritter macht einem Mädchen Hasenohren.
"Wir waren die besten Freunde", erzählt Adelaide mit einem Seufzen. "Und wir wussten nicht, wie gefährlich der Strand war." Sie wirft uns einen bedeutungsvollen Blick zu und zeigt uns einige neuere Fotos von der Gegend. "Hier, an diesem Brunnen haben wir uns oft getroffen." Sie tippt auf einen verschwommenen, dunkleren Fleck. Ich kreise ihn mit dem roten Stift ein. Adelaide erzählt weiter über ihre Freunde. "... Und das Resort haben wir natürlich oft aus der Ferne gesehen. Deswegen wollte ich mich heute so unbedingt hier mit euch treffen. Dieser Ort war so etwas wie ein Traum, den wir damals hegten. Endlich hier zu sein ..." Sie sieht sich seufzend um und schiebt mir dabei ein neues Bild zu, diesmal eine Satellitenaufnahme des halb verkommenen Resorts, in dem wir uns befinden. Ich verenge die Augen. Während das Resort vom Boden aus aussieht wie ein ganz normales Gebäude - nun, so normal, wie dieses prestigeträchtige Haus sein kann - erkennt man von oben drei Erdwälle, die die Schwimmbadanlagen und das silbrige Gebäude umgeben und ein perfektes, gleichschenkeliges Dreieck bilden. Nur die Ecken fehlen. Ich sehe mich um - nein, auch wenn man weiß, dass sie da sind, kann man die Wälle nicht erkennen. Einer muss im Gebüsch hinter der Straße liegen, die Straße selbst verläuft entlang des Resorts und durch die flachen Bereiche, wo die Ecken sein müssten. Die anderen Wälle sind irgendwo in den Wäldern ringsum.
Auf dem Satellitenbild erkennt man auch sechs zylindrische Türme mit durchsichtigen Kugeln auf den Spitzen. Sie stehen jeweils dort, wo die Wälle enden, wie Pfeile von Toren, die das Gelände endgültig einschließen könnten. Doch irgendwie erinnert das ganze Metall außen an den Türmen an Batterien oder Teslaspulen.
Ich tausche einen besorgten Blick mit Lian.
"Das ist eine tolle Landschaft", sagt Lian laut. "Perfekt für einen Fantasyroman, oder nicht?"
Ich nicke. Immerhin weiß ich, dass man uns beobachtet und zuhört. Lians Vorwand ist gut. Wenn wir so tun, als würden wir mehr als einen Roman basteln, erwarten sie nicht, dass wir Verbindungen zwischen den vielen Details ziehen.
"Ich will euch etwas zeigen." Adelaide steht auf und führt uns zwischen künstlich aufgehäuften Hügeln hindurch zu einem der Schwimmbecken. Dieses liegt außerhalb und sieht etwas aus wie ein Schnuller, da es nicht eckig gebaut ist, sondern aus zwei in der Mitte verbundenen Ovalen besteht, von denen das eine etwas größer ist. Diese unregelmäßige Form soll wohl natürlicher wirken. Eine kleine Wasserfontäne spritzt aus dem Becken. Dahinter kann man Wälder und Hügel sehen, dunkelgrüne Flecken, die von beiden Seiten in die Aussicht greifen, wie die Zähne eines Gebisses. Am Horizont, in der letzten Lücke zwischen zwei Hügeln, erkennt man die Hochhäuser und Lichter der Stadt und das beleuchtete, riesige Gesicht der hölzernen Pavianstatue vor dem Zoo, die uns direkt anstarrt.
"Dieses Becken war für die Elite der Elitesportler gedacht", erklärt Adelaide uns. "Aber seht ihr da vorne die Bäume? Sie sehen fast echt aus, aber wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass die Äste eine Treppe bilden. Ein genialer Einfall. Wenn hier ein Flugzeug abstürzt, können Pilot und Copilot über die Treppe nach unten."
Gut, da der Segelflugplatz nicht weit entfernt ist, kommt es hier häufiger mal dazu, dass ein leichtes Flugzeug notlanden muss, wenn ihm der Schwung ausgeht. Aber dass die Treppen für Piloten gedacht sind, glaube ich keine Sekunde. Ein weiteres Puzzlestück.
Als wir zum Hauptplatz mit den rostenden Außentischen zurückkommen, steht dort ein kräftiger Mann und erwartet uns. "Was wollt ihr hier?"
"Oh, Verzeihung!" Ich dränge mich vor, denn von meinen Begleitern habe ich mich als erster von dem Schock erholt. Schnell erkläre ich, dass wir nur Autoren sind, die über das furchtbare Unglück recherchieren, als fünf Teenager vor vielen Jahren hier in der Gegend ertrunken sind.
Der Blick, als der Mann Adelaide ansieht und in ihr die letzte Überlebende erkennt, jagt mir einen Schauer über den Rücken.
"Und warum besprecht ihr das hier?", fragt der Mann misstrauisch, aber unter einem freundlichen Deckmantel.
"Einmal, um uns in die Zeit damals einfühlen zu können", antwortet Lian. "Aber wir sind auch Sportler und wollten uns hier unbedingt einmal umsehen."
Das Gebaren des Mannes ändert sich schlagartig und er lädt uns nach Drinnen ein. Mein Blick fällt auf meine Tasche mit den Unterlagen, die ich vorher zusammengetragen habe. Aber ich lasse sie auf der Bank liegen. Ich weiß, dass noch irgendein Mann - oder wahrscheinlich sogar sehr viele - im Gebüsch warten. Aber wenn ich die Tasche mitnehme, verrate ich mein Misstrauen und meine Angst. Also lasse ich die Daten ungeschützt liegen, in dem deutlichen Wissen, dass irgendjemand mein Zeug durchwühlen wird, und folge wie ein begeisterter und ehrgeiziger Jungsportler dem Mann in das Innere des Resorts und Fitnessstudios. Wir lassen uns herumführen, führen ein paar Übungen vor und schließlich lädt der Mann Lian und mich ein, die Sportschule zu besuchen. Während wir nach Außen hin Begeisterung heucheln, ist uns gleichzeitig klar, dass das Angebot nicht an unseren Fähigkeiten liegt, sondern daran, dass die Kerle uns im Auge behalten wollen.
Adelaide ist nirgends zu sehen, als wir nach draußen kommen. Hoffentlich ist sie einfach gefahren und liegt nicht tot im Gebüsch. Ich hoffe mal, dass ein Mord den Leuten hier zu viel Aufmerksamkeit erregen würde.
Wir spielen immer noch die begeisterten Neuzugänge an der Sportakademie. Zum Glück können Lian und ich uns mehr oder weniger ohne Worte verständigen.
Als ich meinen Rucksack einsammele, entdecke ich einen neuen Anhänger unter den vielen anderen am Reißverschluss. Na toll!
"Was hältst du von Adelaide?", fragt Lian auf dem Rückweg.
"Sie war ganz nett. Aber ein bisschen ... hmm, ist 'nostalgisch' das richtige Wort? Sie konnte ja gar nicht aufhören, über ihre Freunde zu reden." Während ich so abfällig spreche, sieht Lian mich fragend an. Ich deute auf dem Rucksack und zeichne dann auf meiner Uhr den Lauf eines Zeigers nach. 'Man hört uns zu. Später.'
"Weißt du schon, wie du das deinen Familien erzählst?", frage ich ihn.
"Ich glaube, ich möchte sie überraschen. Sie werden ganz aus dem Häuschen sein, dass wir den Platz haben!"
"Da soll mal einer sagen, Recherchen bringen nichts." Ich grinse breit. "Lass uns gleich noch feiern gehen. Ich muss nur vorher dringend aus dem verschwitzten Zeug raus."
Ich sehe Lian bedeutungsvoll an. Er versteht, dass wir auch aus unserem Zeug raus müssen. So oft, wie uns anerkennend auf die Schulter geklopft wurde, während der Mann uns herumführte, sind wir sicherlich voller Wanzen. Verdammt, dabei platze ich fast vor Fragen. Wir müssen die ganzen Puzzlestücke von Adelaide sortieren und ich habe bereits Angst, dass ich irgendwas vergesse.
"Gehen wir in die Tropical Bar?", schlage ich vor und Lian stimmt zu. Dann werden wir uns, sobald wir uns umgezogen haben, spontan für einen anderen Ort entscheiden. Damit sollten wir sicherstellen, dass unser Treffpunkt nicht verwanzt ist.
Ich fahre mir durch die Haare und verdränge das Bild, wie mir beim Kämmen ein kleines Mikrofon herausfällt. Scheiße, wir sind einer großen Sache auf der Spur und bald stecken wir in der Sportakademie fest, umringt von mächtigen Feinden. Dass Adelaides Freunde ertrunken sind, was kein Unfall. Der Autounfall, der Jonas, den einzigen anderen nicht Ertrunken, vor wenigen Wochen tötete, war ebenfalls kein Unfall. Adelaide ist in größter Gefahr.
Und alles, was ich tun kann, ist vorzugeben, dass ich einen Krimi schreiben möchte.