Es war einmal ein junger Prinz in einem Königreich, weit hinter den immergrünen Wäldern und tiefblauen Seen, wo stets die Sonne schien. Er war der jüngste und dritte Sohn seines Vaters, der seinen älteren Brüdern in nichts nachstand. Edelmut, Tapferkeit und klugen Geist besaß er ebenso wie die anderen zwei, doch hatte er noch keine Gelegenheit erhalten, diese Tugenden unter Beweis zu stellen. Bis er eines Tages vom König den Auftrag erhielt, um die Hand der Prinzessin in einem der angrenzenden Länder anzuhalten. Es hieß, sie sei sehr stolz und sehr schön. Wer sie zur Frau gewinnen wolle, müsse ihr eine Winterrose bringen, die es nur auf dem höchsten Gipfel des schneebedeckten Gebirges gab, das die bekannten Königreiche von der unbekannten Ödnis aus Eis und Schnee hinter den Bergen abschirmte.
So machte sich der Prinz also auf und beinahe wäre er ganz allein, nur mit seinem treuen Schimmel aufgebrochen, doch einer der Stallknechte, ein kräftiger Bursche mit wilden Locken, folgte ihm auf einem Maulesel und ließ sich nicht vertreiben.
„Was hängst du an meinen Hacken? Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und da brauche ich keinen Diener, Bursche!“
Solche Worte waren nicht das, was der treue Stallknecht verdiente, aber dem Prinzen schien es die mildeste Art, ihn loszuwerden. Was nicht gelang.
Auch eine schnellere Gangart des Schimmels oder das Durchqueren von Flüssen, schüttelten ihn nicht ab. So gab der Prinz schließlich auf und ritt mit dem Burschen Seite an Seite. Mühsam war die Reise und lang, doch sie begannen, sich die Zeit zu vertreiben, indem sie Geschichten erzählten und Lieder sangen. Nachts machten sie ein Feuer und schauten in den Himmel, an dem sie schon bald andere Sterne als in ihrer Heimat erblickten. Der Prinz erzählte viel von seinen Pflichten, der Stallknecht hörte zu und berichtete von Abenteuern, die er gern erleben wollte.
Endlich veränderte sich auch die Landschaft. Es gab kaum noch Wald und der Boden wurde trocken und steinig. Immer wieder kam ein stürmischer, kalter Wind auf, der die beiden Reiter frösteln und schließlich frieren ließ. Als sie endlich die schneebedeckten Berge erblickten, waren sie bereits erschöpft und von nun an wurde aus dem Abenteuer eine beschwerliche Reise. Wie froh war da der Prinz, dass er nicht allein war! Er schalt sich selbst eigennützig, weil er es nicht fertigbrachte, den Stallburschen zurückzuschicken. Wenn er selbst sich vorwärtsschinden müsste, so galt dies doch nicht für seinen Begleiter.
„Ihr werdet mich nicht los, komme was da wolle“, versicherte dieser bei so mancher Gelegenheit. Ihm war kein Fluss zu eisig, kein Weg zu steinern und kein Hang zu steil. Selbst als sie durch eine wilde Gegend kamen, in der es keine Bäume mehr gab und sie nicht mal mehr ein Feuer des Nachts entzünden konnten, wich der treue Bursche nicht zurück. Im Gegenteil. Nun lagen sie noch dichter beieinander, um sich zu wärmen und in den kältesten Stunden der Nacht zu trösten.
Schließlich war es nur noch der Stolz und die Entschlossenheit des Prinzen, die sie weiter zu den Gipfeln trieb. Er hatte die Prinzessin nie gesehen, für die er die Winterrose bringen sollte und es kamen ihm Zweifel daran, ob er sich überhaupt daran erfreuen könnte, wenn er sie fände.
Dann eines Nachts, fiel Schnee auf die beiden Suchenden herab. So viel, dass er sie ganz bedeckte. Sie drängten sich aneinander für ein wenig Wärme und hofften auf ein Wunder, dass sie den Morgen erleben durften.
Als der Morgen kam, regte sich der Stallbursche und erkannte voller Entsetzen, dass der Prinz ganz steif und grau im Gesicht war. Da packte ihn die blanke Angst und weil er bemerkte, dass der Prinz nicht atmete, wollte er ihm etwas von seinem Atem geben. So legte der Bursche seine Lippen auf dessen eisigen Mund und hauchte ihm Wärme zu. Unablässig, immer wieder und endlich geschah das Unermessliche: Die Lippen des Prinzen füllten sich mit Leben, seine Wangen wurden wieder rosig und er schlug die Augen auf. Da erkannte er, was geschehen war und lächelte.
Von da an waren beide unzertrennlich und den Prinzen kümmerte die Winterrose nicht mehr. Und da sie dort im Schnee nicht gestorben sind, durchstreifen sie noch heute die Wälder und Seen, dort, wo immer die Sonne scheint.
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