Den ganzen Tag hatte Erny in der Schankstube verbracht. Der Wirt, der auf den Namen Romma hörte, hatte ihn am Nachmittag mit Speis und Trank verköstigt. Ein halbes Wildschwein und ein Glas in Eichenholzfass gereifte, dreißig Jahre alte Cola hatte er sich einverleibt. Danach hatte er sich die Zeit bis zum Abend in einem gemütlichen Sessel totgeschlagen. Vor Langeweile war er darin eingeschlafen, aber das wiederholte Klingeln des Türglöckchens schreckte ihn schließlich wieder aus dem Schlummer auf. Die Schankstube hatte sich allmählich gefüllt und in einem Kamin an der Wand war ein Feuer entzündet worden. Eine gemütliche Feierabendatmosphäre herrschte in der Gaststätte. Das Gemurmel der Gäste erschallte wie leise Musik, ab und zu unterbrochen vom gellenden Gelächter einer adipösen Dame und dem ständigen Räuspern eines bronchialkranken Opas. Gegen sieben Uhr (die Zeit maß der Zwerg nunmehr an einer mittelmäßigen Omäga-Armbanduhr ab) entschied Erny, sich unter die Leute zu mischen und seine Waren anzupreisen.
Anfangen wollte er an dem Tisch der adipösen Dame, deren Lachen ihm bereits in den Ohren klingelte. An ihrem Tisch saßen noch zwei junge Männer mit glattrasierten Gesichtern und zurückgegelten Haaren, die lange, qualmende Elfenbeinpfeifen in den Händen hielten.
„Guten Abend, Gnädigste. Mein Name ist Erny Rosträtchen. Dürfte ich mich zu Euch gesellen?“, stellte sich Erny vor.
„Ahaha, ein Zwerg. Wie putzig! Kommt näher! Setzt Euch, setzt Euch! Trinkt Ihr ein Glas Champagner mit uns?“, säuselte die viel zu aufwändig geschminkte, mit Gold behangene Dame.
„Für mich keinen Alkohol“, sagte Erny und setzte sich auf einen freien Stuhl an den Rundtisch.
„Dann erzählt doch mal: Was führt Euch hierher?“, fragte die Dame heiter. Ihr starkes Parfüm penetrierte Ernys Riechorgan. Er unterdrückte ein Niesen.
„Ich verkaufe Dinge. In echter Zwergenqualität. Ich würde mich freuen, Euch mein Sortiment präsentieren zu dürfen. Dosenöffner, Goldzähne, Schlüsselanhänger, Manschettenknöpfe, Ferngläser… Armbanduhren“, sagte Erny mit seiner einstudierten Geschäftsstimme, wobei er das letzte Wort wehmütig herauswürgen musste.
Die beiden Kerle, die ihm gegenüber am Tischende saßen, kicherten wie kleine Schulmädchen und tauschten einen abschätzigen Blick miteinander aus.
„Junger Mann, führt Ihr keine Kunstwerke mit Euch? Fotografien, Malereien, Plastiken aus cobaltblauer Knete…. Schmuck?“, fragte die Dame unbeeindruckt.
„Ähhh…“, meinte Erny.
„O welch Banause!“, rief die Dame theatralisch aus. „Tut mir leid, Herr Rosträtchen, aber an billigem Krimskrams und No-name-Nippes habe ich kein Interesse.“
Erny rutschte von seinem Stuhl, drehte sich wortlos um und ging zum nächsten Tisch. Diesmal hatte er sich einen Fensterbankplatz ausgesucht, an welchem sich eine junge Blondine und eine genauso junge Brünette hingesetzt hatten, die Cocktails tranken. Bei jungen Damen hatte der Zwerg eigentlich immer Erfolg. Seinem Charme konnte für gewöhnlich kein weibliches Wesen widerstehen – von der dicken Tante von eben einmal abgesehen.
„Seid gegrüßt, ihr Hübschen! Ist dieser Platz noch frei?“
Das Mädchen mit den blonden Haaren begutachtete den Zwerg von oben bis unten und erlaubte ihm anschließend, sich zu setzten. Die Brünette wickelte sich derweil eine Haarsträhne um den mit rotem Nagellack verzierten Finger und nahm einen Schluck von ihrem Bloody Mary.
„Ein bisschen alt für uns bist du zwar schon, aber solange du uns Getränke bezahlst, darfst du hierbleiben“, meinte die Blonde.
„Ähh… Also eigentlich bin ich nicht hier um…“, stammelte Erny, aber er wurde von der Brünetten unterbrochen.
„Guck dir mal den an! Wie kann man mit so einem Hintern eine Drachenlederleggins anziehen! Man kann voll die Kimme sehen. Dass so etwas sich nicht schämt.“
Die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen war auf einen dickleibigen Oger gerichtet, der sich soeben an die Bar gesetzt hatte.
„Also ich wollte gerade sagen, dass…“, versuchte es Erny ein zweites Mal, aber schon wieder wurde ihm das Wort abgeschnitten.
„Dafür ist dieser Elf dahinten aber ein richtiger Schnuckel.“
„Sieht aus, als wäre dieses Elfenweib seine Freundin.“
„Zu schade. Aber die hat echt tolle Haare, das muss man ihr lassen.“
„Ja, für solche Haare wäre ich bereit, einen Mord zu begehen!“
„Total.“
„Oh, und die alte Hexe macht auch wieder ihre Runde. Schau, dahinten lungert sie herum und befragt die armen Leute.“
„Die ist so was von lästig. Zum Glück war sie noch nicht bei uns.“
„Aber wenn nicht irgendwer ihr sagt, was sie hören will, dann kommt sie bald auch zu uns. Den ganzen Abend streift die hier schon herum.“
„Oh nein. Ich will nicht von der angequatscht werden. Die stinkt bestimmt nach Knoblauch.“
„Schau dir bloß ihre Hakennase an! Und die dicke Warze darauf!“
„Und erst ihr Buckel! Der ist so groß, dass er schon ein Eigenleben entwickelt hat.“
Erny hatte genug gehört. Hier würde er ja doch nicht zu Wort kommen, dann konnte er auch genauso gut woanders seine Sachen verkaufen. Die Mädchen bemerkten noch nicht einmal, dass er wegging.
Noch bevor er sich entschieden hatte, wo er sein Glück als nächstes versuchen sollte, legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. Der Zwerg hüpfte vor Schreck in die Luft, dann erkannte er, dass es sich lediglich um die Hexe handelte, die vor zwei Sekunden noch das Gesprächsthema der beiden Lästerschwestern gewesen war.
„Entschuldigung“, krächzte sie. „Habt Ihr heute irgendwo eine Gruppe Orks gesehen? Es ist sehr wichtig, dass ich sie finde.“