Nachdem sich die beiden Gruppen aufgeteilt hatten, stürmte Chanti wortlos davon. Sie achtete nicht darauf, ob Meli ihr folgte. Schnurstracks lief sie die Hauptstraße bis zum Marktplatz entlang. Meli hatte Mühe, mit dem schnellen Gang der Hexe mitzuhalten. Auch Leo schien der eilige Marsch seiner Herrin nicht zu gefallen, denn er wippte zu jedem Schritt mit großen Augen auf Chantis Rücken auf und ab.
„Hättest du die Güte, auf mich zu warten?“, rief Meli, als sie keuchend zu Chanti aufgeschlossen hatte. Sie griff nach dem Ärmelsaum von Chantis dunklem Hexenmantel, doch diese entriss sich dem Griff der Fee und drehte sich wütend zu ihr um.
„Ich weiß, warum du mit mir eingeteilt werden wolltest! Du hast mich noch nicht genug zum Gespött gemacht. Nein, du willst mir unter die Nase halten, dass Hexenmagie Feenmagie unterlegen ist. Aber jetzt hör mal zu, Grünschnabel! Ich bin noch nicht so verkommen und alt, wie ich vielleicht aussehe. Ich lasse mich von dir nicht unterfetten!“
„Unterbuttern“, korrigierte Meli Chantis Wutrede leise.
Chanti hörte ihr gar nicht zu. „Du glaubst, du wärst ja ach so schlau! Willst ständig angeben. Aber lass dir von mir gesagt sein: Du bist nichts weiter als eine naive Besserwisserin!“
Chanti machte auf den Fersen kehrt und nahm ihren eiligen Lauf wieder auf. Meli sah ihr einen Moment bedrückt hinterher, bevor sie der Hexe und deren Hund nachlief. Es war nie ihre Absicht gewesen, Chanti zu beleidigen. Sie hatte sich nur mit der Hexe einteilen lassen, weil sie Chantis Abgeneigtheit ihr gegenüber auf den Grund gehen wollte. Aber wenigstens wusste sie nun, warum die Hexe ihr die kalte Schulter zeigte.
Immer mehr Menschen und Menschenwesen drängten sich um Meli und Chanti, und ein geschäftiges Stimmengewirr setzte wie ein aufbrausender Windsturm ein. Am Marktplatz herrschte ein wüstes Gedränge. Meli staunte nicht schlecht über die vielen bunten Händlerzelte und unterschiedlichen Banner, die an deren Holzstangen und Spannseilen befestigt worden waren und anmutig im Wind flatterten. Eine derartige Vielfalt an Angehörigen verschiedener Länder und Völker hatten weder Meli noch Chanti jemals gesehen. Trolle, Oger, Feen, Elfen, Zwerge, Riesen und Menschen aus allerlei Stämmen hatten sich versammelt, um die unterschiedlichsten Gegenstände feilzubieten oder zu ergattern. Hier würden Meli und Chanti mit Sicherheit ihre Vorräte aufstocken können.
Die beiden wühlten sich durch die Leute an den Zeltständen vorbei und erspähten allerhand ungewöhnliche Gegenstände, Stoffe und Speisen. An einem Gebäckstand füllte sich Meli ihren Rucksack mit Brot auf. Bezahlen tat sie mit Jess´ Geld, das diese zuvor an alle hatte austeilen müssen. Das Geld war unrechtmäßig in den Besitz der Gestaltwandlerin gekommen, weshalb Erny, Chanti und Meli darauf bestanden hatten, es unter sich aufzuteilen und zum Zwecke der Mission zu gebrauchen. Froh war Jess darüber nicht gewesen, aber eine Wahl hatte man ihr nicht gelassen.
Nebst Brot schaffte sich Meli noch Nüsse, geschroteten Hafer, Trockenfrüchte und Honigkekse an. Sie drehte sich gerade von einem Stand um, an dem sie sich eine Pilzsuppe in einer Tonschüssel hatte aushändigen lassen, als sie Chanti am Zelt daneben erspähte. Die heiße Suppe anpustend, damit diese schneller abkühlte, eilte sie zur Hexe hinüber. Meli hatte seit Chantis Standpauke kein Wort mehr mit ihr gewechselt.
„Na, haben die Räucherstäbchen dein Interesse geweckt?“, fragte Meli in einem versöhnlichen Ton.
„Ich mag den Duft davon“, erklärte Chanti kühl und würdigte die Fee keines Blickes. Sie kehrte dem Marktzelt den Rücken zu und ging, ohne etwas gekauft zu haben, weiter.
Meli überlegte, mit welchen Themen sie Chanti in ein freundliches Gespräch verwickeln könnte, und achtete nicht weiter auf ihre sinnüberflutende Umgebung. Völlig in Gedanken versunken löffelte sie ihre Pilzsuppe auf. Erst als ein neuer, köstlicher Duft ihr unverwandt in die Nase stieg, wurde sie aus ihrer Grübelei gerissen. Auch Chanti war dem herrlichen Duft anheimgefallen und tauschte gerade an einem planüberzogenen Imbissstand eine einfache Holzschüssel mit Eintopf gegen drei Bekimünzen ein. Der Standinhaber, ein Oger mit großen Hauern, wünschte Chanti einen guten Appetit und wandte sich dann dem nächsten Kunden zu.
Meli schnüffelte noch einmal angeregt in der Luft. Mit gerunzelter Stirn las sie an einem Schild neben der Theke die Zutaten des Eintopfes ab. Plötzlich riss sie die Augen auf, sprang auf Chanti zu und schlug ihr die dampfende Schüssel, in die die Hexe gerade ihren Holzlöffel tunken wollte, aus der Hand. Der Inhalt ergoss sich auf dem gepflasterten Boden und die umstehenden Leute hüpften erschrocken zur Seite, um nicht von herumspritzendem Eintopf getroffen zu werden.
„Spinnst du jetzt total?“, schimpfte Chanti mit vor Wut rotem Gesicht.
„Da- da waren Zwiebeln drin“, verteidigte sich Meli schüchtern.
„Was erzählst du da? Da waren keine…“ Chanti brach ihren Satz ab, als sie auf der Zutatenliste die Zwiebeln entdeckte.
Der Oger mit den gewaltigen Stoßzähnen blickte hinter seinem Verkaufstresen zu ihnen herüber und rief: „Ja, stimmt. Da sind Zwiebeln drin. Aber die sind saisonfrisch und mild im Geschmack. Sie erfüllen die hiesigen Lebensmittelstandards. Die Kontrollinspektion hat meine Ware erst letzte Woche als sehr gut klassifiziert.“
„Darum geht es nicht“, stellte Meli klar. „Hexen sind allergisch auf Zwiebeln. Das ist Gift für sie.“
Chanti war ganz blass um die Nase geworden. Sie blickte zum Eintopf zu ihren Füßen und dann in Melis Gesicht. „Danke“, hauchte sie schließlich perplex. „Danke! Du hast mir das Leben gerettet! Danke!“ Die Hexe schoss vor und zwängte Meli in eine innige Umarmung. Meli konnte Leos Hundeatem im Gesicht spüren, bis Chanti sie wieder freigab.
„Gern geschehen“, sagte die Fee freudestrahlend. Das aufrichtige Lächeln auf Chantis Gesicht ließ sie ahnen, dass von nun an ein besseres Klima zwischen ihnen herrschen würde.