Zwei Tage irrten die Reisenden durch den Heulenden Wald. Sie versuchten, dem kleinen Pfad zu folgen, so gut es ging, verloren ihn jedoch regelmäßig aus den Augen. Am Ende brachten sie mehr Zeit damit zu, den Weg wiederzufinden, als diesen zu beschreiten.
Am dritten Tag veränderte sich die Vegetation. Die unterschiedlichen Laubbäume wichen hochgewachsenen Kiefern, der Boden war plötzlich überall mit Moos ausgekleidet und die Atmosphäre wurde noch düsterer als ohnehin schon. Der Morgentau verfing sich in übergroßen Spinnennetzen und der morgendliche Frühlingsnebel wollte sich hier zu keiner Tageszeit zu verziehen.
Chanti legte den Kopf in den Nacken und sah gen Himmel empor. Die riesenhaften Äste der Nadelbäume schlossen jedwedes Sonnenlicht aus. Die Orientierung hatte die Gruppe schon lange verloren, einzig der schmale Trampelpfad, der sich durch das Moos schlängelte, konnte sie noch aus diesem Labyrinth an Kiefern führen.
Den ganzen Tag gingen sie in dieser trostlosen Umgebung. Die einstige Heimat erschien jedem von ihnen fernab. Die Kälte der immerwährenden Schatten streckte die Klauen nach ihnen aus, und jeder einzelne von ihnen hätte sich eine Schicht wärmerer Kleidung nur zu gern herbeigewünscht.
Die wenigen Sonnenstrahlen, die sich tapfer bis zum Erdboden kämpften, wurden gegen Abend schnell schwächer. Dass Mondlicht den Reisenden in der anbrechenden Nacht eine gute Sicht verschaffen würde, wagte niemand von ihnen zu hoffen. Daher richteten sie sich eiligst ihr Nachtlager ein und trugen Brennholz für ein wärmendes Feuer zusammen.
Auch dieses Mal bestand Erny darauf, das Feuer mit seiner geballten Mannskraft und seinem Grips ohne magische Hilfe zu entfachen, doch als er gerade nicht aufpasste, tippte Meli das Holz sanft mit ihrem Zauberstab an und ließ so eine Glut entstehen. Erny, der dachte, er hätte das Feuer diesmal allein angezündet, hob seine Mundwinkel zu einem stolzen Lächeln.
Die Gruppe hatte sich in einem Kreis um das kleine Lagerfeuer herum niedergelassen und genoss die tröstliche Wärme, die davon ausging. Doch der aufsteigenden Dunkelheit hatten die spärlichen Flammen nur wenig entgegenzusetzen. Außerhalb des kleinen Lichtradius wurden die Reisenden von der tiefschwarzen Nacht empfangen.
„Welchem Anlass verdankt der Heulende Wald eigentlich seinen schauerlichen Namen?“, fragte Meli und hielt die Hände mit offenen Handflächen in Richtung Feuer.
„Na den Werwölfen! Buhhhh!“, versuchte Jess die Fee zu beunruhigen.
„I- ist das wahr?“
Erny schüttelte den Kopf. „Nein. Jess will dich nur aufziehen. Werwölfe sind schon lange ausgestorben. Dieser Wald hat seinen Namen natürlich von den Geistern, die nachts herumheulen!“
Meli zog eine angsterfüllte Miene, über die die anderen lachten.
„Keine Angst, Meli“, meinte Chanti belustigt. „Dieser Wald heißt nur so, weil der Wind durch die Baumwipfel heult. Das ist alles.“
„Ach so“, seufzte Meli erleichtert. Doch dann hörte sie plötzlich ein wahrhaftiges Heulen. Ein Heulen, das nicht vom Wind stammen konnte, sondern von einem lebendigen Wesen, und dessen Echo auf unheimliche Weise durch den ganzen Wald hallte.
„Was war das?“, fragte sie. Der Schrecken war wieder in ihre Stimme zurückgekehrt.
„Keine Ahnung“, gab Chanti zu.
Die ganze Gruppe sah sich angestrengt im Wald um, aber gegen die Dunkelheit der Nacht hatten ihre Augen keine Chance. Nike legte die Ohren an und fauchte.
Dann heulte das unbekannte Wesen erneut. Doch dieses Mal erklang das grässliche Geräusch viel näher!
Meli sprang alarmiert auf und versuchte vergeblich, den Ursprung des Heulens im umliegenden Gebüsch zu erspähen. „Es nähert sich. Was ist das? Was kann das sein?“
Jess schluckte. „Das ist bestimmt diese Bestie, die in diesen Landen schon ganz viele verirrte Wanderer gerissen hat. Das stand neulich in der SUPERillu!“
Ein Rascheln im näheren Gebüsch ließ die Gruppe erschrocken zusammenfahren. Ein kehliges Knurren drang aus der Düsternis und ließ nichts Gutes verheißen. Plötzlich ertönte aus einer anderen Richtung ein Heulen, sodass die Reisenden simultan die Köpfe dorthin drehten. Erny stand auf und zückte seine Zwergenaxt. Beim nächsten Heulen sprangen auch Chanti und Jess auf die Beine und sahen sich gehetzt um.
Die vier Weggefährten fanden sich Rücken an Rücken wieder. Der flackernde Schein des Lagerfeuers ließ die Schatten um sie herum bedrohlich tanzen. Aus mehreren Richtungen erklang das düstere Heulen, was bedeutete, dass mehr als eine Kreatur in der Sicherheit der allesdurchdringenden Schwärze herumschlich. Die unbekannten Wesen schienen einen Kreis nach dem anderen um das Lager zu ziehen, sodass die ängstliche Reisegruppe bald von allen Seiten eingekesselt war.
Dann sprangen die Bestien aus dem Unterholz hervor.