Mühselig kraxelte die Gruppe die Böschung im Wald wieder hinab, um zur Straße zurück zu gelangen. Sie hatten sich darauf geeinigt, Popelburg einen Besuch abzustatten und nach dem Gestaltwandler zu suchen. Unglücklicherweise würde dieser Weg sie nach Norden führen und den Orks einen noch größeren Vorsprung einräumen. Für die Aussicht, einen Gestaltwandler zu treffen, nahmen sie den Umweg jedoch in Kauf.
Zwei Tage lang folgte die Gruppe der wenig befahrenen Nordstraße, bis sie endlich auf die ersten Zeichen einer nahen Siedlung trafen. Die Anzahl der Bäume nahm stätig ab, bis nur noch vereinzelte Obstbäume und Hecken die Landschaft prägten. Stattdessen fanden sich Erny, Chanti und Meli bald von Kornschlägen und Weideflächen umringt und auch die ersten Gehöfte kamen in Sicht.
Die Feldarbeiter blickten mit Erstaunen auf die ungewöhnliche Truppe, die sich, wie ihnen schien, in das kleine Dorf verirrt haben musste. Popelburg war wahrlich kein ästhetischer Anblick. Die popelige Miniburg im Zentrum, der das Dorf vermutlich seinen Namen verdankte, war gerade groß genug, um eine kleinwüchsige Familie zu beherbergen, und glich einem moosbedeckten Geröllhaufen. Das Gebäude war aus Bausteinen unterschiedlicher Größe und Formen befestigt worden und zwei schiefe Türme ragten links und rechts von der Eingangstür empor.
„Da drin residiert der Bürgermeister mit seiner Gattin“, erklärte Meli.
Chanti rümpfte die Nase und Erny betrachtete die Burg interessiert.
„Eilt euch“, sagte die Fee und führte ihre Begleiter durch die Straßen Popelburgs bis zu einer wenig einladend wirkenden Herberge am östlichen Rand des Dorfes.
Das Gasthaus glich einer Gruselvilla und war aus schwarzen, verwitterten Balken gebaut. Eckige Erkerfenster ragten an den Seiten heraus und der Dachgiebel war mit dämonischen Fratzen verziert. Mit einer roten Farbe – Erny hoffte, dass es kein Blut war – standen die Worte Zum infernalischen Martyrium über der Eingangstür an die Außenwand geschmiert. Es war erst später Nachmittag, doch bereits jetzt tönte lautes Geschrei, Stimmengewirr und Klaviermusik aus dem Gebäude bis zur Straße.
„Hier hast du übernachtet?“, fragte Erny entsetzt, als er den Namen der Herberge gelesen hatte.
„Ja. Ich fand die Location ganz hübsch und das Ambiente erschien mir vertrauenserweckend“, sagte Meli und öffnete die schwere Holztür, die ins Innere des Gasthauses führte.
Meli, Erny und Chanti traten ein und augenblicklich schlug ihnen der Lärm, den die Gäste veranstalteten, ungedämpft entgegen. Nike blieb geduldig wartend auf der Straße zurück.
Der Schankraum war gut besucht und roch nach Rum und Männerschweiß. Eine anregende Kartenpartie war im vollen Gange; eine ganze Gaunerschar hatte sich um einen Rundtisch versammelt und spielte Uno. Ein Mann mit Hakenhand und Goldzähnen hatte gerade eine rote +2 Karte gelegt. Der Mitspieler zu seiner Linken stand wütend auf und schmiss dabei laut rumpelnd seinen Stuhl um. Erny beobachtete, wie er den Mann mit der Hakenhand am Kragen packte und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug.
„Das ist keine Gaststätte. Das ist eine Spelunke der übelsten Art“, murmelte der Zwerg und versuchte sich vorzustellen, wie Meli hier ganz allein übernachtet hatte, ohne dabei von irgendjemandem abgestochen zu werden.
„Ich erachte die hiesigen Leute für gastfreundlich“, merkte Meli an, schlenderte fröhlich zur Theke und betätigte eine Messingklingel in Form eines Totenkopfes.
Keine drei Sekunden später eilte ein bärtiger Mann mit Augenklappe durch eine zweiflügelige Schwenktür herbei. Er erkannte Meli, öffnete die Arme und rief lächelnd: „Ah, die gute Fee ist wieder da!“ Meli und er gaben sich zwei Küsschen auf die Wangen, dann fragte der Gastwirt neugierig, was die junge Fee so schnell wieder nach Popelburg zurückführte.
„Während meines letzten Aufenthalts in deinem ehrwürdigen Gasthaus ist mir ein Mann aufgefallen, der hier Geld beim Armdrücken gewonnen hat. Die Umstände meines Besuchs verlangen ein dringendes Gespräch mit besagtem Mann“, verriet Meli dem aufmerksam lauschenden Wirt.
„Ja, ja“, meinte dieser mit rauer Stimme. „Ich weiß, wen du meinst. Aber niemand kennt seinen Namen. Hier in der Gegend nennt man ihn Schleicher. Er taucht seit ein paar Monaten jeden Abend auf, fordert meine Gäste zum Armdrücken heraus und verschwindet dann immer vor Mitternacht mit dem Preisgeld. Wohin weiß keiner.“
„Meinst du, er ehrt uns auch heute mit einem Besuch?“, fragte Meli.
„Sicher! Aber zuerst nehmen du und deine Freunde Platz und bestellen sich einen Drink. Geht aufs Haus. Und ich schicke Ute nach draußen, dort wartet sicher dein entzückendes Kätzchen auf ein Schälchen Milch“, sagte der einäugige Wirt und drückte Meli und den Zwerg jeweils an einer Schulter zu einem Fenstertisch in einer Ecke.
Meli setzte sich und der Wirt verschwand wieder durch die Schwenktür.
Chanti setzte Leo auf dem Boden ab, bevor sie neben Erny Platz nahm. Der Welpe wuselte um die Tischbeine herum und leckte schließlich an einem rotbräunlichen Fleck, der sich in die zerschrammten Bodendielen gefressen hatte.
„Ist ja n´ lauschiges Plätzchen hier“, sagte Chanti und sah sich angewidert um. Einer der Uno-Spieler zwinkerte der Hexe vieldeutig zu, woraufhin sie sofort wegschaute.
„Nicht wahr?“, meinte Meli, die den Sarkasmus nicht bemerkt hatte.
Sie warteten den ganzen Abend schweigend am Tisch. Der Wirt brachte ihnen irgendwann drei Tassen heiße Schokolade und eine Schüssel mit lauwarmer Milch für Leo. In die Schokolade waren herzförmige Marshmallows getunkt worden.
Nach und nach trudelten immer mehr Leute ein. Zunächst war das Uno-Spiel der Gaunerbande der Mittelpunkt des Interesses, doch mit der Zeit wurden die Anwesenden des Spieles überdrüssig und sie gaben es auf. Die Leute teilten sich in kleine Grüppchen auf und unterhielten sich bei Bier und Maulbeermost.
Das ereignislose Warten machte die Reisegruppe zunehmend schläfriger. Melis Augen brannten von der Müdigkeit, die sie zu übermannen drohte, und auch Chanti döste, den Kopf auf ihre Hand gestemmt, ein.
Erst als draußen die tiefschwarze Nacht eingebrochen war, öffnete sich die Eingangstür und eine dunkle Gestalt trat ein. Als Meli sich des Hereinkommenden gewahr wurde, verflog ihre Müdigkeit auf einen Schlag.
„Das ist er“, flüsterte die Fee.
Chanti rutschte mit dem Kopf von ihrer Hand ab und schrak auf.