Obwohl die alte Inhaberin des Gasthauses sich hatte umstimmen lassen, nachdem Erny ihr schweren Herzens seine letzte Armbanduhr überlassen hatte, war den vier Reisenden mit dem kleinen Hundewelpen und der großen Tigerkatze lediglich der Keller zugewiesen worden. Die Alte hatte darauf bestanden, dass Nike sich während ihres gesamten Aufenthaltes dort versteckt hielt, um eventuelle neuen Gäste nicht zu verschrecken. Dass sich irgendwelche Touristen nach Burg Katzenschreck verirrten, hielt Chanti zwar für mehr als unwahrscheinlich, jedoch hatte sie den Keller ohne Widerstand als Quartier akzeptiert. Hier konnten sie nicht belauscht werden, denn das Untergeschoss lag tief unter der Erde und war wie eine Höhle in den Stein gehauen worden. Die alte Gastwirtin hatte ihnen damit unwissentlich einen Gefallen getan, auch wenn der Keller alles andere als gemütlich war.
Die einzige Licht- und Wärmequelle war eine einsame Fackel an der Wand, die bereits einen dunklen Rußfleck dort hinterlassen hatte. Den vier Reisenden waren ein halbes Dutzend Decken und ein tönerner Nachttopf nach unten gebracht worden. Ihre Bettstätten hatten sie zwischen Gerümpel und halbmorschen Weinfässern auf dem kalten Boden eingerichtet. Nach einem kargen Abendmahl legten sie sich nieder und schliefen ein.
Am nächsten Morgen hielten sie im abhörsicheren Kellergewölbe eine Besprechung ab.
Erny hatte sich einen hölzernen Dreifuß aus dem Gerümpel gekramt und sich auf seine Axt gestützt darauf niedergelassen. Die anderen hatten mit ihren Decken vorliebnehmen müssen.
„Also“, übernahm Meli das Wort, „Jetzt, da wir hier sind, welch weiteres Vorgehen haltet ihr für angebracht?“
„Jemand von uns muss heute ein Audio bei König Dani ersuchen und ihn unter einem Vorwand herlocken. Hier können wir ihn problemlos festhalten, wenn Jess seinen Platz einnimmt“, erklärte Chanti.
„Ein Audio? Meinst du eine Audienz?“, fragte Erny.
„Hab´ ich doch gesagt!“, blaffte die Hexe den Zwerg an. Dann fuhr sie mit ruhigerer Stimme fort: „So. Wer will diesen Part denn übernehmen?“
Nach ihrer Frage setzte ein bedrückendes Schweigen ein. Chanti besah jeden ihrer Reisegenossen mit einem durchdringenden Blick, welchem diese ausnahmslos alle auswichen. Selbst Nike drehte den Kopf weg und beobachtete die Flammen der Fackel mit übertriebenem Interesse.
„Niemand?“ Die Hexe rümpfte empört die Nase. „Alles muss man selber machen!“ Sie hievte sich mit einem lauten Ächzen auf die Beine und ging zur Kellertür hinüber. Dort angekommen drehte sie sich noch einmal zu ihren Kameraden zurück. „Na schön, ihr bereitet hier unten alles für König Daniels Ankunft vor. Bestimmt findet ihr Fesselmaterial in dem ganzen Plunder. Ich klopfe drei Mal an die Kellertür, wenn ich zurück bin. Dann wisst ihr, dass ich es bin und nicht diese grantige Spinatwachtel von Gastwirtin.“
Chanti hatte schon die Kellertür geöffnet und einen Fuß auf die Treppe gesetzt, als Leo ihr hinterherstürmte und traurig an ihren Beinen hinaufsprang. Der Welpe wischte mit seinem flauschigen Schwanz über den Boden und winselte herzerweichend. Chanti begab sich vor ihm in die Hocke. „Ja, mein Schätzchen. Ich weiß, du willst mitkommen. Na, warum eigentlich nicht? Du bist der Einzige in diesem Raum, der freiwillig anbietet, mich zu begleiten. Auf dich ist eben Verlass, mein Kleiner. Schon gut. Du darfst auf meinen Rücken.“
Sie wickelte Leo wie gewohnt in ein paar Leinentücher und befestigte diese dann an ihrem Rücken. Nur Leos schwarze Schnauze lugte noch unter dem hellen Stoff hervor, sodass Chanti wieder den Eindruck einer buckligen, alten Hexe vermittelte.
„Wenigstens einer hält mir die Treue“, raunte sie gerade so laut, dass ihre Reisegefährten es noch hören konnten, bevor sie die Kellertür hinter sich schloss.
Chanti näherte sich dem Palas auf zittrigen Beinen. Normalerweise fürchtete sie sich nicht davor, mit höherständischen Leuten zu sprechen, aber heute ging es nicht nur um sie selbst. Es stand viel auf dem Spiel. Sie würde ihre vorlaute Zunge im Zaun halten müssen, und das war ihr seit jeher schwergefallen. Obendrein hatte sie keine Ahnung, unter welchem Vorwand sie König Dani bis in das muffige Kellergewölbe der wenig einladenden Gaststätte locken sollte. Sie hoffte darauf, dass ihr zu gegebenem Augenblick spontan eine zündende Idee in den Kopf schießen würde. Ansonsten war alles verloren.
Das Gewicht des Welpen auf ihrem Rücken beruhigte sie etwas. Katzen waren vielleicht nicht sehr angesehene Haustiere auf Burg Katzenschreck, aber gegen Hunde hatte bisher niemand einen Einwand erhoben. Es dürfte also keine Probleme geben, mit Leo bis in den Thronsaal vorzudringen.
Vor den Toren angekommen, atmete sie einmal tief durch und klopfte dann mit dem kunstvoll gefertigten Türklopfer an. Beim Loslassen des kalten Metalls fiel ihr der schmuckvoll ausgearbeitete Hundekopf auf, der den beweglichen Ring im Maul hielt.
Keine Sekunde später öffnete sich einer der beiden Torflügel und der Kopf eines Wachmanns reckte sich durch den entstandenen Schlitz. Auf dem Haupt trug er eine Kappe mit braunen, flauschigen Schlappohren dran, die ihm das lächerliche Aussehen eines Kleinkindbetreuers verlieh.
„Ihr wünscht?“, fragte die Wache.
Chanti verkniff sich ein Schmunzeln und sagte: „Ich ersuche ein Audio… äh… eine Audienz bei König Dani.“
Sie fühlte sich auf unangenehme Weise daran erinnert, wie sie vor nicht allzu langer Zeit vor König Henris Toren gestanden hatte und wenig später unsanft wieder hinausgeworfen worden war. Anders als damals öffnete die Wache ihr jetzt kommentarlos die ganze Flügeltür und trat beiseite. Chanti ging freudig überrascht hindurch und fand sich in einem kleinen, sonnenbeschienen Vorhof wieder. In der Mitte des Hofs stand ein Marmorbrunnen, in welchem sich zwei helle Steinstatuen befanden. Ein etwa wolfsgroßer Hund hatte die Schnauze weit aufgerissen und lief einer wütend fauchenden Katze hinterher. Aus ihrer beider Mäuler tröpfelte das Brunnenwasser, das sich zu ihren Füßen in einem Becken laut gurgelnd sammelte. Weiße Pflastersteine führten um den Brunnen herum und der Weg war von Zierrosen umsäumt. Der ganze Hof war u-förmig umschlossen, an den Seiten verliefen überdachte Arkadengänge, die in den rechteckigen Thronsaal mündeten.
König Dani beweist in seiner Architektur auf jeden Fall Geschmack, dachte Chanti bei sich.
In dem Hof liefen noch ein Dutzend weitere Wachen umher, die alle diese bescheuerten Hundeohren-Mützen aufhatten. Die Kopfbedeckung schien wohl Teil der Uniform zu sein. In Punkto Kleidung beweist der König eher weniger Geschmack.
Anstandslos wurde Chanti in den Thronsaal geführt, welcher vor Prunk nur so strotzte. Der Boden war mit rotem Teppich bedeckt, der von goldenen Mustern durchzogen wurde. Die purpurne Tapete an den Wänden war ebenfalls mit goldenen Mustern verziert und mit gewebten Wandteppichen geschmückt.
Chanti sah sich staunend um und legte schließlich den Kopf in den Nacken, um nach oben zu blicken. Ein glamouröses Deckenfresko war dort zu sehen. Es zeigte etwa zwanzig Hunde, die wie Engel auf bauschigen Wolken thronten und zum Betrachter herabschauten. Ihre Köpfe waren von goldenen Heiligenscheinen umgeben. Jeder Hund gehörte einer anderen Rasse an. Es gab große und kleine unter ihnen, welche mit hängenden und welche mit aufgerichteten Ohren. Braune, schwarze, weiße, blonde oder mehrfarbige Hunde. Hunde mit langem Fell und Hunde mit kurzem Fell. Es war sogar eine Französische Bulldogge dabei; der einzige Hund mit einer platten Nase. Das ganze Fresko war von großer, künstlerischer Anmut und an Schönheit kaum zu überbieten.
Ein lautes Räuspern riss Chanti aus ihrer Bewunderung. König Dani saß auf seinem goldenen Prunkthron am Ende des Saales. Er trug eine gewöhnliche Jeans, Wanderschuhe und eine schwarze Weste, auf welcher der Schriftzug Hundediener zu lesen war. Auf seinem Haupt blinkte eine schwere, juwelenbesetzte Goldkrone. Neben seinem Thron lag ein großer, kurzhaariger Rüde auf einer goldenen Seidendecke. Der Rüde hob kurz den Kopf, als Chanti nähertrat, legte das Kinn aber bald wieder auf seinen gewaltigen Pfoten ab.
„König Dani, welche Ehre, Eure vortreffliche Exzellenz aufsuchen zu dürfen“, sagte Chanti schmeichelnd. Den König mit Komplimenten zu überschütten, bis ihr eine bessere Taktik einfiel, konnte schließlich nicht schaden.
„Moin“, grüßte der König lässig zurück.
Chanti schluckte nervös. Nun war der Moment gekommen, da sie das Anliegen ihres Kommens offenlegen musste. Doch die rettende Idee, auf die sie gehofft hatte, wollte ihr einfach nicht einfallen.
„Ähm“, sagte sie, um Zeit zu schinden. „Welcher Rasse gehört denn dieser stramme, junge Hund an Eurer Seite an?“
König Dani warf einen Blick auf den Rüden und schwellte stolz die Brust. „Das ist Peewee. Mein Vorzeigehund. Er ist ein vollblütiger südländischer Schnabulierer aus der zweiundzwanzigsten Generation. In seinem Heimatland wird diese Rasse zur Löwenjagd genutzt.“
Chanti bezweifelte, dass der rundliche, müde dreinblickende Koloss von Hund im Stande wäre, auch nur einen Schmetterling zu jagen, aber sie wollte König Dani nicht widersprechen.
Die Inneneinrichtung, die Wachmannsuniformen, der Brunnen im Hof… Alles deutete darauf hin, dass der König ein wahrer Hundefanatiker war. Vielleicht würde das Chanti irgendwie in die Karten spielen?
„Ich liiiiiebe Hunde!“, säuselte die alte Hexe übertrieben.
König Daniel beugte sich nach vorne und rief: „Ich auch! Hier auf Burg Katzenschreck liebt jeder Hunde. Hunde sind die besseren Menschen. Nicht so wie Katzen. Wenn es nach mir ginge, würde man sämtliche Katzen dieser Welt wegsperren. Arrogante, gemeingefährliche Biester, die sie sind!“
Bisher hatte Chanti den König als Person empfunden, die zwar in Hunde vernarrt war, aber dennoch nicht jeder Vernunft entbehrte. Doch das irre Funkeln in seinen Augen ließ nun den schändlichen Auftraggeber der Orkhorde erkennen, der den Lichttiegel zu seinem Zwecke zu missbrauchen gedachte.
Chanti entschied, das Spiel entgegen ihrer persönlichen Meinung mitzuspielen, um in König Dani Sympathie zu wecken: „Wie recht Ihr habt! Ich konnte die kleinen Fusselbälle noch nie leiden. Kratzen und fauchen und dann lautstark ihr Futter einfordern, das ist alles, was die können.“
Der König strahlte. „Ich sehe, wir verstehen uns. Aber sagt doch mal, was tragt Ihr so schwer auf Eurem Rücken?“
Chanti warf einen Blick über ihre Schulter. Leo hatte sein Köpfchen aus den Leinentüchern herausgewunden und blickte sich laut hechelnd im Thronsaal um. Seine rosa Zunge hing ihm über das Kinn und kitzelte Chanti im Genick.
„Gottchen, ist der süß!“, rief König Dani aus und schlug vor Rührung die Hände unter dem Kinn zusammen. Und in diesem Augenblick leuchtete die metaphorische Glühbirne über Chantis Kopf hell auf. Sie wusste nun, wie sie den König in die Falle locken sollte.
„Davon gibt es noch mehr. Lauter kleine Hundebabys. Eines niedlicher als das andere. Ihr müsst nur mitkommen, dann kann ich sie Euch zeigen.“
König Dani verengte misstrauisch die Augen, aber sein Interesse war geweckt.
„Und Süßigkeiten gibt es dort!“, fuhr Chanti munter fort. „Hundebabys und Süßigkeiten! Kommt, kommt. Ich zeige sie Euch! Die Hündchen fühlen sich sooooo allein und wollen gestreichelt werden.“
In König Danis Blick konnte sie erkennen, dass sie ihn damit endgültig am Haken hatte. Als er sich aus seinem Thron erhob, rührten sich auch die Wachen an der Seite des Saals, um ihrem König Geleitschutz zu geben.
„Die Hundebabys fürchten sich vor Fremden! Es wäre besser, wenn Ihr allein mitkämt“, warf Chanti rasch ein und hoffte, der König wäre leichtgläubig genug, um auf diesen offensichtlichen Trick hereinzufallen.
König Dani gab den Wachen ein knappes Handzeichen, welches sie innehalten ließ. Dann machten sich Chanti, Leo und der König auf den Weg.