Die Köpfe der Anwesenden drehten sich alle gleichzeitig zum Neuankömmling. Dieser trat dumpfen Schrittes ins Fackellicht der Herberge und grinste. Sein markantes Kinn, die eisblauen Augen und die stählernen Muskeln machten aus ihm einen wahren Schönling. Chanti rief sich den Namen in Erinnerung, den der unbekannte Hüne in dieser Gegend zu tragen schien. Schleicher.
„Wer hat Lust, eine Runde zu verlieren?“, fragte Schleicher mit der dunkelsten Stimme, die Chanti je gehört hatte.
Sofort kam Bewegung in die bis dahin faul herumsitzenden Schankbesucher. Ein Tisch wurde geräumt und jede Menge Stühle wurden von den Schaulustigen drumherum aufgestellt. Der erste Herausforderer setzte sich Schleicher gegenüber. Beide waren von ähnlich großer Statur, aber der vermeintliche Gestaltwandler übertrumpfte seinen Gegner um ein paar Zentimeter. Er fuhr sich lässig durch die goldenen, schulterlangen Locken und stülpte dann, genau wie sein Herausforderer, die Ärmel hoch. Die beiden schlossen ihre rechten Hände ineinander und begannen, ihre Kräfte im Armdrücken zu messen.
„Los, Henning! Mach ihn fertig.“
„Zeig´s ihm, Henning!“
„Den schaffst du!“
„Henning! Henning! Henning!“
Die versammelte Menge feuerte ihren Kameraden lauthals an. Die ersten Wetteinsätze wurden in den Raum gerufen. Meli verrenkte ihren Hals bei dem Versuch, einen Blick auf die beiden Kontrahenten zu erhaschen.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Chanti schreiend, um das Stimmengewirr zu übertönen.
„Warten, bis er abhaut. Und ihm dann unauffällig folgen“, schlug Erny vor.
„Aber erstmal genießen wir die Show!“, rief Meli, stand auf und tauchte ins Getümmel ein.
Die Fee schaute jubelnd dabei zu, wie Schleicher einen Gegner nach dem anderen plattmachte. Ein einziges Mal schienen sich die Wettstreitenden ebenbürtig und rangen minutenlang unter heftigen Schweißausbrüchen miteinander, aber auch dieser Herausforderer wurde schlussendlich besiegt.
Als die Uhr Mitternacht schlug, langte der mysteriöse Hüne nach seinem erbeuteten Preisgeld, stand auf und bahnte sich einen Weg durch die applaudierenden und ihm auf die Schulter klopfenden Schankgäste. An der Tür drehte er sich noch einmal um, winkte seinen Fans zu und verließ dann das Lokal.
Erny gab Chanti einen Stoß mit dem Ellenbogen und nickte zur Tür. „Es ist so weit. Er haut ab.“
Die Hexe und der Zwerg standen auf und schlichen auf leisen Sohlen zur Eingangstür. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Chanti drückte die klebrige Klinke nach unten und trat ins Freie. Eisige Nachtluft schlug ihr entgegen. Sie atmete tief ein. Nach den zahlreichen Stunden in der stickigen Schankstube war die frische Luft eine Wohltat für ihre Lungen.
„Ahhhh! Sauerstoff!“, sagte sie mit geschlossenen Augen.
„Nicht so laut!“, zischte Erny, der die Eingangstür leise hinter sich schloss. „Da ist er!“ Der Zwerg deutete mit dem Kopf auf den riesenhaften Umriss des Hünen, der um eine Ecke bog.
„Hinterher!“
Auf den Straßen Popelburgs herrschte Dunkelheit. Einzig der zunehmende Mond spendete ein wenig Licht und legte einen silberblauen Schleier auf die Strohdächer der Bauernhäuser. Das Dorf schien wie ausgestorben. Die Einwohner waren, wenn sie sich nicht gerade im Infernalischen Martyrium ins Delirium soffen, alle in ihren Betten und schliefen. Nicht eine einzige Stimme hallte durch die Straßen.
Chanti und Erny bemühten sich um leise Schritte, als sie ihrer Zielperson nachsetzten. Schleicher bog trotz seiner plumpen Statur flink wie eine Katze um die Häuser.
„Wo ist Meli?“, presste Erny zwischen pfeifenden Atemzügen hervor.
Chanti zuckte mit den Achseln. Die Hatz verlangte ihre gesamte Aufmerksamkeit, weshalb es sie nicht kümmerte, wo die Fee abgeblieben war. Sie konzentrierte sich darauf, trotz des schnellen Tempos nicht außer Atem zu kommen, denn andernfalls würde sie sich durch ihr lautes Schnaufen verraten.
Auf schlitternden Sohlen hielt die Hexe unverwandt an und zog den Zwerg am Kragen gegen eine Steinmauer. Schleicher war stehengeblieben und sah sich unauffällig um. Hatte er sie bemerkt?
Sein Blick huschte kurz über den Zwerg und die Hexe. Erny zog seinen Bauch ein, so gut es ging, und hoffte, mit den Schatten zu verschmelzen. Fest gegen die Mauer gepresst beobachtete Chanti, wie sich der mannhafte Hüne in eine junge Frau mit glatten, dünnen Haaren, einem runden Gesicht und langen Beinen verwandelte.
Chanti hatte genug gesehen. Die Metamorphose entpuppte Schleicher eindeutig als Gestaltwandler. Meli hatte also recht gehabt. Chanti löste sich von der Mauer und trat einen Schritt auf Schleicher zu.
„Stehenbleiben!“, befahl sie mit fester Stimme.
Schleicher zuckte überrascht zusammen, warf einen Blick auf die alte Hexe und nahm die Beine in die Hand. Den Geldsack fest umklammernd stürmte sie die Straße entlang und bog dann blitzschnell in eine enge Gasse ein. Chanti und Erny setzten die Jagd fort. Ihnen wurde klar, dass sie Schleicher jetzt nicht mehr einholen würden: Ernys Zwergenbeine waren zum Sprinten zu kurz und Chanti hatte durch die Verfolgung zu viel Kraft verloren. Mit rasselndem Atem preschten sie dennoch in die Gasse und mussten dort abrupt abbremsen. Schleicher lag auf dem Boden; von Nikes wuchtiger Tatze festgenagelt. Die Tigerdame hatte sich mit gehobenen Lefzen über die junge Frau gebeugt und peitschte angespannt mit dem Schwanz hin und her. Die Gasse war so eng, dass die Schultern der Tigerin die Fassaden an beiden Seiten streiften.
Schleicher saß in der Falle.
Chanti stützte sich am Querbalken einer Häuserfassade ab, um wieder zu Atem zu kommen. Erny grummelte leise und entspannte seine schmerzenden Muskeln.
„Huhu!“ Eine fröhliche Mädchenstimme hallte gespenstisch an den Mauern der Gasse wider.
Chanti blickte auf und entdeckte Meli, die sich an ihrer Großkatze vorbeizwängte. Die Fee trug Leo in den Armen. Der Welpe begann, leise zu wimmern, weshalb Meli ihn zu Boden setzte.
Leo lief sofort zu Chanti und sprang an ihren Beinen hinauf. Die Hexe kniete sich hin und betüdelte das flauschige Hundebaby. „Mein Süßer, wo bist du denn gewesen? Hat Mami dich zurückgelassen? Du armes, armes Ding, du! Mami tut es sehr leid, mein Schnuckelchen. Jetzt ist alles wieder gut.“ Sie wickelte den Hund in ein Leinentuch und befestigte ihn wie gewohnt an ihrem Rücken. Dann richtete sie sich auf und schenkte Meli einen düsteren Blick. „Wieso war er bei dir? Und wieso tauchst du plötzlich mit deiner Bestie hier auf? Wie hast du uns überhaupt gefunden?“
Schleicher wollte die Gunst der Stunde nutzen und versuchte, sich unbemerkt aus Nikes Griff zu winden, doch als die Tigerin bedrohlich fauchte, stellte die junge Frau den Fluchtversuch umgehend ein.
Meli schenkte Schleicher keine Beachtung. „Ich habe beobachtet, wie unsere Zielperson das Lokal verlassen hat und wie ihr zwei nach draußen geschlichen seid. Statt es euch gleichzutun, habe ich die Hintertür genommen und bin mit Nike in diese Gasse geeilt. Denn hier bin ich bereits letztes Mal Zeuge der Verwandlung geworden. Mich deuchte, dass der Gesuchte diesen Ort erneut aufsuchen würde.“
Chanti funkelte Meli noch einen Augenblick lang misstrauisch an, doch bevor sie etwas sagen konnte, stöhnte Schleicher ängstlich auf. „Wer seid ihr? Und was wollt ihr von mir?“ Chanti trat einen Schritt näher und heftete ihren einschüchternden Blick auf die junge Frau. Diese schrak zurück und rief: „Mein Geld kriegt ihr nicht!“
„Du bist ein Gestaltwandler, nicht wahr?“, fragte Erny mit ruhiger Stimme.
„Waaaaaaas?“, piepste Schleicher und tat völlig überrascht. „Nein… So… so was gibt es gar nicht.“
„Versuch nicht, uns zum Dummen zu halten!“, zischte Chanti.
„Meinst du nicht zum Narren zu halten?“, fragte Erny die Hexe mit einem Stirnrunzeln.
„Hab ich doch gesagt!“, maulte Chanti, ohne den Blick zu heben. „Wir haben gesehen, wie du dich verwandelt hast. Du bist derjenige, den man hier Schleicher nennt!“
Die junge Frau schluckte ertappt.