„Chanti“, Erny sprach mit der belehrenden Stimme eines besorgten Vaters, „Die Orks umgehen die Unheilsberge nicht ohne Grund. Diese Berge tragen ihren Namen nicht zum Spaß!“
„Das weiß ich doch!“, fuhr Chanti den Zwerg an. „Aber wir haben keine Wahl. Das ist unsere einzige Chance, rechtzeitig in den Hohen Landen einzutreffen. Zu Fuß holen wir die Orks niemals ein!“
„Dieser Vorschlag findet meine Zustimmung“, sagte Meli. „Meines Erachtens sollten wir die Abkürzung über die Berge erwägen.“
„Ich bin auch dafür“, meinte Jess auf ihrem Kaugummi kauend. „Je schneller wir diese Reise hinter uns haben, desto besser.“
Erny schnaufte resignierend. „Na schön. Dann eben über die Berge. Aber habt ihr auch bedacht, dass vor den Unheilsbergen auch noch der Heulende Wald liegt? Den müssten wir ebenfalls durchqueren.“
Meli legte spöttisch den Kopf schief. „Hegst du etwa Furcht vor einem Wald?“
„Das ist nicht irgendein Wald“, entgegnete Erny schnippisch. „Das ist der am meisten heimgesuchte Wald der Flachen Lande! Es kursieren Gerüchte über diesen Wald, da würden dir die wohlgelockten Haare zu Berge stehen!“
„Und wenn schon“, ging Chanti dazwischen, bevor Meli etwas hätte erwidern können. „Das Risiko nehmen wir in Kauf. Wir haben schon viel zu viel Zeit vertrödelt! Ab jetzt heißt es: Doppeltes Tempo, weniger schlafen und mehr marschieren!“
Wenig später hatten die vier Reisenden mit dem kleinen Hundewelpen und der gefräßigen Tigerkatze die Marktstadt hinter sich gelassen und folgten der breiten Handelsstraße in den Süden. Je weiter sie sich von Gûnerstadt entfernten, desto weniger Reisekutschen und Handelskarren kamen ihnen entgegen. Der zunehmenden Dunkelheit zum Trotz legte die Gruppe eine immer größere Strecke zurück. Selbst im Mondlicht, das ungehindert auf die Pflastersteine fiel, trieb Chanti ihre Reisegenossen unerbittlich weiter. Jetzt, da die Hexe den genauen Vorsprung der Orks kannte, war sie noch fester dazu entschlossen, dieser diebischen Bande das Handwerk zu legen. Selbst wenn das bedeutete, dass sie bis in die späte Nacht auf den Beinen sein musste.
Die nächtliche Stille hatte sich über das Land gelegt, durchbrochen von gelegentlichen Eulenrufen und Jess´ gezischten Verwünschungen. Nur noch selten begegneten ihnen mit Laternen ausgestattete Fuhrwerke, deren Besitzer aus irgendeinem Grund des Nachts reisten.
Erst als Jess sich protestierend an den Wegrand setzte und die Weitereise vehement verweigerte, schlug die Gruppe endlich ihr Nachtlager auf. Chanti, Erny und Meli ließen sich erschöpft neben Jess zu Boden und schliefen augenblicklich ein.
Den Preis für das Herauszögern der Nachtruhe bezahlten sie am nächsten Tag, denn nicht einmal die frühaufstehende Chanti machte vor Mittag die Augen auf. Dass kürzere Schlafpausen und längere Tagesmärsche also nicht funktionierten, um die Orks einzuholen, bestärkte die Hexe in ihrem Plan, die Unheilsberge zu überqueren.
Die Abkürzung war ihre einzige Chance.
Am Mittag stießen die Gefährten auf eine Weggabelung. Die Handelsstraße führte weiter in den Süden und damit Richtung Brachtal, während eine gewundene Abzweigung sich in den Westen erstreckte. Einem aus der Erde ragenden Holzschild entnahmen sie, dass der westliche Weg in den Heulenden Wald führte. Hätten sie diesen erst durchquert, stünden nur noch die Unheilsberge zwischen ihnen und ihrem Ziel.
„Na dann. Lasst uns gehen“, sagte Chanti und schlug die Abzweigung ein. Erny folgte ihr raschen Schrittes, legte jedoch vorsichtshalber die Hand an den Griff seiner Axt. Ihm war immer noch nicht wohl bei der Vorstellung, den Heulenden Wald zu betreten. Meli warf einen letzten Blick auf die helle, schnurgerade Handelsstraße, die im Gegensatz zu dem engen, gewundenen Pfad mit Pflastersteinen befestigt worden war, und setzte sich dann ebenfalls in Bewegung. Jess trottete ihren Reisegenossen mit Nike im Schlepptau hinterher und stopfte sich unbekümmert eine Handvoll gebrannter Nüsse in den Mund.
Der Wald verdichtete sich um die Gruppe, das Gelände wurde zunehmend unwegsamer und die Sonne lugte immer seltener zwischen dem dichten Blätterdach hindurch. Dem eingeschlagenen Pfad war anzusehen, dass er schon lange nicht mehr beschritten worden war. Knorrige Wurzeln entpuppten sich als fiese Stolperfallen und hängende Flechten und Dornengestrüpp versteckten den Weg gelegentlich. Es wirkte, als würde der Wald versuchen, jedweden Fremden in die Irre zu führen. Die Schritte der Reisenden wurden vom feuchten Erdboden gedämpft und eine gespenstisch dumpfe Stille herrschte in diesen Gefilden. Selbst die Waldtiere schienen verstummt zu sein. Einzig das Knarzen der alten Bäume war zu vernehmen.
„Man sagt, die Elfen haben die Bäume einst das Sprechen gelehrt“, erzählte Meli mit ehrfürchtiger Stimme.
„So ein Quatsch“, sagte Jess und langte herzhaft in die raschelnde Papiertüte mit den gebrannten Nüssen. „Das ist bloß nerviges Elfengesülze. Ständig sprechen die in Naturmetaphern. Eine rote Sonne geht auf. Heute Nacht ist Blut vergossen worden. Mimimi!“
Erny sah sich bangen Blickes um. Die Axt hatte er immer noch fest umgriffen. „Vielleicht hat Jess recht. Aber irgendetwas Böses lauert in diesem Wald. Das spüre ich.“
Nike schien Ernys Vorahnung zu teilen, denn ihre Nackenhaare waren gesträubt und ständig blieb die Tigerin stehen, um nach Gefahren zu horchen. Leo hingegen gefiel die Gegend; er sah sich auf dem Rücken seiner Herrin mit heraushängender Zunge aufmerksam um.
Die ganze Gruppe konnte spüren, dass etwas im Heulenden Wald anders war. Aber ob dieses Etwas ihnen wohl oder feindlich gesinnt war, das konnte niemand von ihnen sagen.