Erny hatte sofort gewusst, dass die Zusammenarbeit mit der Gestaltwandlerin nicht einfach werden würde. Obwohl Jess sich zur Mitreise gezwungen sah, hörte sie nicht auf, sich zu beschweren.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie nach etwa einer Stunde Fußmarsch genervt.
„Noch eine ganze Weile“, antwortete Chanti ausweichend.
„Was heißt das?“ Jess schlenderte der Gruppe lustlos hinterher, nur angespornt von Nikes gelegentlichem Knurren. Popelburg und dessen Felder lagen bereits weit hinter ihnen. Sie befanden sich wieder in einer bewaldeten Gegend, die leicht bergauf führte.
Meli drehte sich schwungvoll zu Jess um und sagte: „Unser Ziel sind die Hohen Lande. Um diese zu erreichen, müssen wir drei Tage südlich ziehen und dann der großen Südweststraße folgen. So sollten wir in circa drei Wochen da sein.“
„Drei Wochen?“, rief Jess entgeistert. „Wir müssen drei Wochen lang herumwandern? Ich hasse wandern!“
„Ich liebe wandern“, meinte Meli strahlend und drehte sich wieder zurück.
Jess verdrehte die Augen und stolperte dabei über eine Baumwurzel, die sich über den steinigen Trampelpfad wand. Sie stieß sich unelegant mit einer Hand am Boden ab und verhinderte damit, dass sie vollends auf die Schnauze fiel. „Ich hasse die Natur“, fügte sie ihrer unterbrochenen Lamentation mürrisch hinzu.
„Wir verlassen den Wald etwa gegen Nachmittag. Dann kommen wir zum nächsten Dorf. Dort stehen dann nicht mehr so viele Bäume“, versuchte Erny Jess aufzumuntern, um ihrem Gezeter ein Ende zu setzen.
„Keine Bäume mehr?“, fragte Jess. „Dann sind wir ja der Sonne ausgesetzt. Ich hasse die Sonne!“
Diese Aussage wurde mit einem allgemeinen Stöhnen quittiert.
Die Gruppe passierte zwei kleine Dörfchen, die nicht weniger öde als Popelburg waren, und folgte gegen Abend im Gänsemarsch einem kleinen Bachlauf durch unbewohntes Wiesenland. Chanti kämpfte sich mit Leo auf dem Rücken grimmig entschlossen durch das hüfthohe Weidelgras, dicht gefolgt von Meli, die sich mit ausgestreckten Armen die Fingerkuppen von den Halmen streicheln ließ. Dahinter stapfte Erny und machte gelegentlich einen kleinen, unauffälligen Hüpfer, um über das üppige Grasmeer hinwegspähen zu können. Jess schlurfte missgelaunt hinterher. Ihre freiliegenden Unterarme waren mit Grasschnitten und Mückenstichen übersäht. Nike schlich geduckt durch die Wiese, aufmerksam lauschend, ob sich nicht irgendwo ein Hase zwischen den Gräsern versteckte, und scheuchte dabei lediglich den ein oder anderen Grashüpfer auf.
Die Sonne hing bereits tief im Westen, als die Gruppe sich dazu entschloss, unter einem einsamen Birnenbaum das Nachtlager aufzuschlagen. Unweit vom Bächlein, das sich durch den steinigen Grund der Weide fraß, drückten sie das Gras nieder und luden ihr Gepäck ab. Jess ließ sich augenblicklich erschöpft fallen und seufzte müde.
Chanti setzte Leo auf den Boden und streckte anschließend ihren Rücken mit einem lauten Knacken durch.
„Ich werde eine Fischfalle in dem Bächlein aufstellen. Mit ein bisschen Glück gibt es heute ein schmackhaftes Abendmahl“, teilte Erny mit und kramte in seinem Rucksack nach einem engmaschigen Stofffetzen, den er als Netz auszulegen gedachte.
In der Zwischenzeit klaubten Meli und Chanti trockene Äste und Zweige auf, um diese zu einem Lagerfeuer aufzuschichten. Jess legte nur faul die Hände in den Nacken und döste an einem Grashalm kauend im Schatten des Birnenbaums ein. Sollten die anderen sich doch mit dem Aufbau des Lagers herumschlagen, schließlich hatten sie Jess gegen deren Willen mitgenommen.
Als Erny seine Falle ausgelegt hatte, schichtete Chanti gerade das letzte Reisigbündel auf. Der Zwerg bestand partout darauf, das von Chanti und Meli gesammelte Feuerholz eigenhändig zu entzünden. Er setzte sich im Schneidersitz hin und versuchte, einem trockenen Borkenstück Funken zu entlocken, indem er einen stabilen Ast wiederholt in den Händen darüber rollte.
Meli hatte sich gemütlich an den Stamm des Birnenbaums zurückgelehnt, während Chanti mit in den Händen abgestütztem Kopf darauf wartete, dass Erny in seinem feurigen Unterfangen endlich Erfolg hatte.
Über ihnen zogen rosafarbene Wolken hinweg. Nikes Fell strahlte im roten Licht der Abendsonne wie flauschiges Gold, als sie ihre Krallen an der Rinde des knorrigen Baums wetzte.
Während die Gruppe auf ein Feuer wartete, musterte Meli die Gestaltwandlerin verstohlen und zum ersten Mal fielen ihr deren dunkle Klamotten auf. Jess trug schwarze Stiefel mit schwarzen Sohlen, eine schwarze Leinenhose, eine schwarze Tunika, die mit einem schwarzen Gürtel festgehalten wurde, und ein schwarzes, mit Nieten besetztes Halsband. Unter einem dichten Vorhang aus dunklen Haaren lugte ein pausbäckiges, bleiches Mondgesicht hervor.
„Du könntest mal etwas mit deinen Haaren machen“, schlug Meli vor. „Soll ich sie dir flechten? Das würde deinem Antlitz schmeicheln!“
Mit einem Ruck fuhr Jess aus ihrem Halbschlaf auf. „Niemand – ich wiederhole: Niemand! – fasst meine Haare an! Sonst droht ihm die Achselrache!“
„Die Achselrache?“, fragte Meli verwirrt.
Erny sah von seinem (immer noch nicht brennenden) Holz auf. „Ohhh. Ein schreckliches Schicksal, diese Achselrache! Damals, im dunklen Zeitalter, wurden Kriegsgefangene oft durch diese Folter geschickt. Die Qualen sind kaum auszumalen. Nur wenige haben die Tortur überlebt und alle Überlebenden sind dem Wahnsinn anheimgefallen. Seither wurde die Achselrache unter schlimme Strafe gestellt.“
Meli schluckte beklommen. „D-dann eben keine Flechtfrisur.“
Eine Weile herrschte angespanntes Schweigen zwischen den Reisenden. Zikadengesang und das Wispern der im Wind wogenden Grannen tönten sanft über das Land. Dann machte sich Erny wieder an das Reiben seines Astes. Als Chanti nach weiteren zehn erfolglosen Minuten die Geduld verlor, riss sie dem Zwerg genervt das Holz aus der Hand und murmelte: „Hör auf zu fummeln und überlass das mir. Jetzt zeige ich euch mal, wie eine Hexe das macht. Rabenklaue und Giftseeschlangen, dieses Holz soll Feuer fangen.“
Zu ihrem eigenen Erstaunen geschah nichts. Die Hexe legte die Stirn in Falten, dann murmelte sie abermals mit Nachdruck: „Rabenklaue und Giftseeschlangen, dieses Holz soll Feuer fangen!“
Wieder passierte nichts.
Daraufhin zückte Meli einen mit einem Stern besetzten Zauberstab und tippte den Holzstapel sanft mit dessen Spitze an. Ein kleiner Rauchfaden zog sodann in den Himmel auf und ein leichtes Glühen breitete sich unter dem Holz aus. Erny bückte sich zu Boden und fachte die aus Magie entstandene Glut mit aufgeblähten Wangen an.
Chanti verschränkte beleidigt die Arme ineinander. Die Fee giftig anfunkelnd brummte sie: „Ich konnte mich nur nicht an den richtigen Spruch erinnern!“
Während das Feuer allmählich zu wachsen begann, zupfte Jess gedankenverloren ein paar Grashalme aus dem Boden und zerrupfte sie in den Fingern. Die Abendsonne berührte den Horizont und versank allmählich darin. Ein kühler Windhauch fuhr Meli durch die Haare. Auch Leo schien die aufsteigende Nachtkälte in die Knochen zu fahren, denn er legte sich in Chantis Schoss und kuschelte sich zu einem runden Fellklumpen zusammen.
Jess sah von dem Grashalm, den sie gerade massakriert hatte auf. „Jetzt bin ich doch irgendwie neugierig. Dann verratet mir mal: Was tun wir eigentlich?“
„Wir müssen den gestohlenen Lichttiegel in Sicherheit bringen“, antwortete Meli und schlang ihre Arme um die angewinkelten Beine.
„Den was? Lichttiegel? Was soll denn das sein?“
Meli öffnete den Mund, um abermals zu antworten, doch Chanti kam ihr zuvor: „Der Lichttiegel ist ein ganz besonderer Gegenstand. Also spitz die Ohren und hör zu. Ich werde die Legende nur einmal erzählen!“