„Ich werde euch begleiten.“
In der Straße vor dem Gasthaus zum tänzelnden Lama herrschte seit Sonnenaufgang ein geschäftiges Treiben. Die Händler der Großen Stadt standen schon seit zwei Stunden an ihren Ständen oder fuhren ihre Ware auf Karren durch die Gassen. Sehnsüchtig huschte Ernys Blick über die vielen Leute. Hätte er nur mehr Zeit gehabt, dann hätte er hier bestimmt ein Vermögen verdient.
„Sicher nicht!“
Chantis empörtes Schnauben lenkte Ernys Aufmerksamkeit wieder auf die Fee, die fest entschlossen vor ihnen stand.
„Mich werdet ihr nicht mehr los“, sagte Meli. „Ich werde euch folgen, ob ihr dessen gewillt seid oder nicht!“
„Hast du nichts Besseres zu tun? Musst du nicht einen Blumenkranz flechten, eine Hymne an die Sonne singen oder ein Liedchen auf deiner Querflöte spielen?“, entgegnete Chanti höhnisch. Ihr Hündchen sprang an ihren Beinen hoch; er wollte endlich von seiner Herrin getragen werden. Diese schenkte ihm jedoch keine Beachtung.
„Wie es der Zufall will, gedenke ich keine der genannten Tätigkeiten in unmittelbarer Zeit zu verrichten“, sagte Meli mit einem triumphierenden Grinsen. „Also, wohin des Weges? Der diebischen Orkhorde hinterher, so wage ich zu vermuten?“
„Jepp“, antwortete Erny, wofür Chanti ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß.
Meli schlug begeistert die Hände zusammen. „Ausgezeichnet! Jedoch muss ich vor der Abreise noch Nike holen.“
„Was ist ein Nike?“, wollte Erny wissen.
„Nike ist mein Schmusekätzchen“, erklärte Meli und ging um das Gebäude herum zu einem Hinterhof. Trotz der bereits hochstehenden Frühlingssonne lag der Hof im Schatten der Herberge. Die Luft war noch von eisiger Winterkälte durchsetzt und jagte Erny eine Gänsehaut über die Arme. Meli lief schnurstracks auf die Stallungen zu, welche Romma den Reittieren seiner Gäste bereitstellte. Der Zwerg und die Hexe folgten ihr verwundert. Leo stolperte seiner Herrin auf kleinen Beinchen hinterher.
„Was sucht deine Mieze im Stall? Durftest du die nicht mit aufs Zimmer nehmen?“, fragte Erny skeptisch.
„Nein, leider war mir dies nicht erlaubt“, gab Meli zu und verschwand im Inneren des Stalls. Bald darauf kehrte sie mit einer ausgewachsenen, kugelrunden Tigerdame wieder zurück. Am Hals der Großkatze glitzerten zahlreiche Strasssteinchen an einem rosa Halsband.
„Was. Ist. Das?“, fragte Chanti gleichsam angewidert und furchtsam. Leo wackelte aufgeregt mit dem Schwänzchen und schnüffelte an dem Tiger. Dieser würdigte den Hund keines Blickes, sondern gähnte nur gelangweilt.
„Das ist Nike“, sagte Meli und wollte schon zur offenen Straße zurückkehren.
„Meli“, der Zwerg hielt die Fee an der Schulter zurück, „Du kannst doch nicht einfach mit einem Tiger herumreisen!“
Meli winkte amüsiert ab. „Nike ist harmlos. Meistens jedenfalls. Außer wenn sie hungrig ist. Und das ist sie eigentlich immer. Aber mir tut sie nichts, sie ist zahm wie ein Lämmchen.“
Der Zwerg beäugte die Tigerin zweifelnd. Diese hatte sich hingesetzt und verfolgte den Welpen, der laut bellend einen Kreis nach dem anderen um sie zog, geduldig mit den Augen. Dass die Großkatze Leo nicht längst aufgefressen hatte, war Chanti und Erny schließlich Beweis genug, dass sie keine unmittelbare Gefahr darstellte.
„Also“, sagte Meli und band sich abenteuerlustig die Schnallen ihres grasgrünen Rucksacks enger, „Seid ihr des Aufbruchs bereit?“
Ihre Reisebegleiter bejahten und so verließen sie alle die Große Stadt.
Leo schlief bereits wenige Minuten nachdem die Truppe das äußere Tor der Stadt passiert hatte auf dem Rücken seiner Herrin ein. Erny ging voran; er war fest entschlossen, Chanti dorthin zu bringen, wo er das Orklager gesehen hatte. Die Hexe hatte sich dicht an seine Fersen geheftet, ihr Reisebesen diente ihr nun als Stützstock. Meli bildete mit ihrem Tiger die Nachhut. Mit fröhlich wippenden Schritten folgte sie den anderen. Ihr Tiger schlenderte gemächlich hinterher.
Die Straße wich schon bald unbefestigtem Weg, der nur von den zweispurigen Fuhrwerken der Händler instandgehalten wurde. Am Wegesrand sprossen Brennnesseln, Spitzwegerich und Löwenzahn. Das ein oder andere Mal mussten die Reisenden sich dorniges Geäst aus den Gesichtern halten. Dann verließ Erny unvermittelt den Weg und marschierte in die Dunkelheit des Waldes hinein.
Ohne die eingeschlagene Richtung zu hinterfragen, stapften Chanti und Meli dem Zwerg hinterher. Sie kraxelten eine Weile eine hohe Böschung hinauf und folgten dann einem Trampelpfad, den die Waldtiere ins Unterholz geschlagen hatten.
Gegen Mittag blieb Erny an einer flachen Stelle stehen und stemmte die Hände in die Hüften. „Da wären wir.“
Vor ihnen befanden sich die Überreste eines kleinen Feuers. Hier und da lagen abgenagte Knochen im Laub, an welchen Nike interessiert schnüffelte.
„Die Hohen Lande liegen westlich von hier“, stellte Chanti mit Blick auf den Stand der Sonne fest.
„Ziehe ich die richtigen Schlüsse aus dieser Aussage, so ist es unser Plan, den Orks hinterher zu reisen?“, wollte Meli wissen.
„Ja… Aber was dann? Wie halten wir sie auf?“, murmelte Chanti nachdenklich.
Erny ahnte, dass die Hexe Zeit brauchen würde, die nächsten Schritte abzuwägen, und ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen. Mit ausgestreckten Füßen ließ er sich auf einem umgefallenen Baumstamm nieder. Dann kramte er in seiner Tasche und holte ein Stück Räucherschinken hervor. Die Ohren der Tigerdame reckten angeregt in die Höhe, als ihr der Duft des salzigen Fleisches in die Nase stieß. Sie näherte sich Erny und holte mit der krallenbesetzten Pfote nach dem begehrten Futter aus. Erny stierte die Großkatze böse an und drehte sich zur Seite weg. Daraufhin legte Nike die Ohren an und knurrte. Die gehobenen Lefzen entblößten ihre langen, gelben Reißzähne.
„Ich an deiner Stelle würde ihr das Fleisch geben“, riet Meli dem Zwerg.
„Aber…“, widersprach Erny. Doch ein Blick in die funkelnden Augen der Großkatze genügte, um seine Protestrede im Keim zu ersticken. Mit zusammengepressten Lippen warf er das Schinkenstück in die Luft, wo Nike es gierig auffing und in einem Happs herunterschlang.
Chanti und Meli hatten sich nun ebenfalls hingesetzt und knabberten an ihrem Proviant. Die Fee beäugte Erny belustigt, während dieser sich ein Stück Brot aus seiner Tasche klaubte.
„Brot frisst die ja hoffentlich nicht“, murmelte er eingeschnappt.
Chanti hatte von Ernys Futterneid nichts mitbekommen; sie starrte gedankenverloren ins Nichts, während sie auf einem Butterkeks kaute.
„Wie können wir die Orks aufhalten?“, fragte sich die Hexe mampfend. „Wir könnten sie einholen, aber einen Kampf würden wir verlieren… Außerdem müssen die Orks und ihr Auftraggeber vor das Oberste Gericht.“
„Einen Gestaltwandler müsste man kennen!“, meinte Erny. „Der könnte sich als König der Hohen Lande ausgeben und den Tiegel entgegennehmen. Und dann könnte er die Orks von seinen Soldaten festnehmen lassen.“
„Ach, Erny. Gestaltwandler gibt es doch nicht!“, seufzte Chanti mit der Stimme einer tadelnden Mutter. „Die sind nur ein Mythos.“
„Nur weil du noch keinem begegnet bist“, widersprach der Zwerg und riss ein Stück Kruste mit den Zähnen ab. In seinem struppigen Bart hatten sich kleine Brotkrumen verfangen.
„Gestaltwandler gibt es sehr wohl! Meine Augen haben erst kürzlich einen erspäht. Gar nicht weit von hier.“ Meli war mit einem Ruck aufgestanden.
„Ist das wahr?“, fragte Chanti und legte aufgeregt ihre Butterkekse beiseite.
„Natürlich ist das wahr! Feen sind sehr schlechte Lügner.“
„Bist du dir ganz sicher?“, hakte die Hexe nach.
„Ja“, bestätigte die Fee. „In Popelburg. Keine zwei Tage ist es her. In besagter Gegend bin ich in einer Herberge abgestiegen und habe des Abends zwei Fremde beim Armdrücken im Schankraum beobachtet. Ein muskelbepackter Hüne hat gewonnen und das Preisgeld eingesackt. Wenig später habe ich ihn jählings in einer einsamen Gasse erblickt, wo er sich in eine zierliche Frau verwandelt hat und mit dem Geld entfleucht ist.“ Meli grinste stolz.
„Wenn das stimmt… und wir tatsächlich einen Gestaltwandler in unserer Mitte hätten…“, überlegte Chanti.
„… dann könnten wir die Orks austricksen und ihnen den Tiegel abnehmen“, beendetet Erny ihren Satz.