„Hast du dir wehgetan?“, fragte Erny und reichte Chanti seine Hand, um ihr auf die Beine zu helfen.
„Ich habe nichts, das man nicht mit ein bisschen
Bepanthen versorgen könnte“, keuchte die Hexe. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern und die Farbe kehrte nur langsam in ihr Gesicht zurück. Ihr Hexenmantel war zerschlissen und staubig, aber sonst hatte sie von dem Kampf nichts abbekommen. „Mein Reisebesen ist futsch. So ein Jammer“, stellte sie bedauernd fest.
Nachdem sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte, blickte die ganze Gruppe in die Schwärze des Abgrunds hinab, dem sie alle nur haarscharf entkommen waren. Der von den herabfallenden Brückenteilen aufgewirbelte Staub hatte sich inzwischen gelegt. In der Tiefe war keine Bewegung zu erkennen. Der Ballrock, der durch Nikes Stoß hinabgestürzt war, musste den Tod gefunden haben.
„Nun ist Marios Reich wieder sicher“, stellte Erny fest.
„Und wir können endlich verduften“, sagte Jess.
Chanti riss den Blick vom Abgrund und drehte sich zu der Gestaltwandlerin um. „Danke, dass du zurückgekommen bist und mir geholfen hast. Ich betrachte das nicht als selbstverständlich. Du hättest dich auch aus dem Staub machen können. Aber das hast du nicht. Danke.“ Dann blickte sie zu Meli und Erny und schenkte jedem von ihnen ein aufrichtiges Lächeln. „Ich danke euch allen.“
„Es war mir ein Vergnügen“, sagte Meli höflich und machte einen Knicks.
„Mir nicht“, brummte Erny. „Ich dachte du wärst tot!“
Bevor die Hexe etwas hätte erwidern können, hatte der Zwerg die Arme um sie geschlossen und verharrte etwas zu lange in dieser Position.
„Jemine, ist ja gut! Ich lebe noch“, lachte die Hexe. Nachdem Erny sie losgelassen hatte, wendete sich Chanti der Tigerdame zu, die sich gerade unbekümmert an einer unsittlichen Stelle leckte. „Auch dir gilt mein Dank, Nike! Ich habe dich unterschätzt! Du hast den Ballrock im Kampf besiegt und uns damit alle gerettet!“
Die Tigerin zuckte nur kurz mit dem Ohr und machte sich dann weiter an ihre Katzenwäsche.
„So, meine Freunde! Lasst uns diese dunkle Grabstätte endlich hinter uns bringen!“ Chanti setzte sich frohen Mutes in Bewegung und durchschritt das blendend helle Tor.
Ihre Reisegefährten taten es ihr nach und blinzelten dem grellen Sonnenlicht entgegen. Der Aufenthalt in den Bergstollen hatte ihre Augen an die finsteren Lichtverhältnisse gewöhnt, weshalb sich ihnen die weite Landschaft erst nach und nach offenbarte. Vor ihnen lag eine flache Hochebene, mit kurzem Steppengras bewachsen so weit das Auge reichte. Vereinzelte Büsche und kahles Felsgestein formten das Land. Der Wind zog hier ungebremst über die Ebene und riss an der Kleidung der Reisenden. Nichts deutete darauf hin, dass einst ein Weg durch die Hohen Lande bis zu Marios Reich geführt hatte; längst hatte das Gras die Zwergenstraße zurückerobert.
„Wie geht es von hier aus weiter?“, fragte Jess.
„Wir haben die Hohen Lande erreicht“, erklärte Chanti. „Von hier ist es nicht mehr weit bis zur königlichen Residenz. König Dani bewohnt die Burg Katzenschreck. Dort ziehen wir nun hin. Und dann geht es den Orks an die Wäsche. Denn wer Wind sät, wird Blumen ernten!“
„Sturm“, erklärte Meli.
„Wer Sturm sät, wird Blumen ernten!“, korrigierte sich Chanti mit todernster Stimme und schritt voran.
Die verbleibenden Sonnenstunden nutzten sie, um noch eine möglichst lange Strecke hinter sich zu bringen. Allerdings hatten sie in Marios Reich viel Zeit verloren und so mussten sie schon bald ihr Nachtlager aufschlagen. Feuerholz hatten sie keines durch die Bergstollen mitgeschleppt, und in der Steppengegend der Hohen Lande war auf die Schnelle kein Holz aufzutreiben. Also verbrachten sie die Nacht ungeschützt unter dem freien Himmel, wo ein Feuer ohnehin nicht gegen die starken Winde angekommen wäre.
Am nächsten Morgen erwachten sie alle mehr oder weniger ausgeruht und machten sich alsdann an die letzte Etappe ihrer Reise. Nach einem anstrengenden Tagesmarsch konnten sie die Wallmauern von Burg Katzenschreck bereits in der Ferne erspähen. Davon ließen sie sich jedoch nicht beirren; die Wegspanne war auf dem offenen Feld oft trügerisch. Mindestens zehn Wegstunden trennten sie noch von ihrem Ziel. Allerdings ließ der Anblick der Burgfestung in jedem von ihnen die Entschlossenheit neu aufkeimen. Schon bald wäre der Lichttiegel in Sicherheit!
Nach einer weiteren Nacht im Freien, die sie unter einem Felsvorsprung verbracht hatten, zogen sie mit solchem Enthusiasmus weiter, dass sie in der Abenddämmerung bereits vor den Toren von Burg Katzenschreck standen. Die auf einer Anhöhe erbaute Burgstadt erhob sich majestätisch über das Land und erstrahlte im goldenen Licht der Westsonne. Eine aus mächtigen Balken gebaute Brücke führte über den Halsgraben der Burganlage in den Innenbereich hinein. Links und rechts vor dem Durchgang prangten zwei Hundefiguren aus Stein. Sie blickten jedweden Ankommenden aus grimmigen Mienen an, und, obwohl sie an Ort und Stelle harrten, gaben sie Chanti das Gefühl, sich an zwei Wächtern vorbei zu schmuggeln.
Im Inneren der Burganlage herrschte Düsternis. Die Fassaden und Mauern ragten hoch in den Himmel und warfen lange, dunkle Schatten in die engen Gassen. Die Gefährten waren unbewusst zusammengerückt. Wo sie hinkamen, verstummten die Gespräche, und die Einwohner pausierten ihre Tätigkeiten, um ihnen aus abweisenden Augen hinterher zu starren.
„Die Leute hier machen Gesichter wie drei Tage Regenwetter“, brummte Erny.
„Unsere Anwesenheit scheint ihnen nicht zu behagen“, bestätigte Chanti leise.
Sie liefen an einer alten, ärmlich gekleideten Frau vorbei, die beim Kehren innehielt und Meli vor die Füße spuckte. Die Fee wich angeekelt zur Seite und stieß mit Nikes muskulöser Schulter zusammen.
Die Burganlage war nicht sehr groß, sodass sie schon bald den ganzen östlichen Bezirk passiert hatten und auf ein Gasthaus gestoßen waren. In den Mauern der besagten Baute prangten mannshohe Risse und Moosflechten krallten sich an den feuchten Backstein. Der Platz war wahrlich ungünstig gewählt: Am Rand des Außenbezirks kämen vermutlich nicht viele Reisenden vorbei und der Abwasserkanal der Burgstadt verlief genau daneben und versprühte einen nicht sehr einladenden Geruch. Zudem lag die Herberge ganztägig im Schatten der äußeren Wallmauer, sodass in den Zimmern vermutlich eine dauerhaft niedrige Temperatur herrschte.
Die Reisenden waren allerdings zu müde, um sich in der unbekannten Gegend nach einer anderen Unterkunft umzusehen, weshalb sie beschlossen, sich in dem Gasthaus einzuquartieren.
„Meli und Jess, wartet mit Nike hier draußen vor der Tür. Chanti und ich gehen rein und mieten uns ein Zimmer. Dann fragen wir nach, ob Tiger drinnen erlaubt sind“, beschloss Erny.
Der Zwerg und die Hexe öffneten die über den Boden schrammende Holztür und traten ein. Wie zu erwarten, herrschte eine unangenehme Kälte in dem Gasthaus. Der Innenbereich war menschenleer, die Stühle waren schön säuberlich auf die Tische gestellt worden und einzig das durch die kaputten Fensterläden einfallende, spärliche Licht sorgte für ein wenig Beleuchtung. Der Ort wirkte seit langem verlassen.
Erny räusperte sich. Als keine Antwort kam, räusperte er sich noch einmal. Und gerade, als Chanti und Erny wieder hinaustreten wollten, öffnete sich die Tür zu einem Hinterzimmer und eine alte, gebeugte Frau stellte sich ihnen gegenüber. Ihr Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet, ihr ergrautes Haar war unter einer schmutzigen Haube versteckt und ihr magerer Körper steckte in einem geblümten Schürzenkleid.
„Was wollt ihr hier?“, fragte sie schroff. Beim Sprechen fielen Chanti ihre schwarzen, verfaulten Zähne ins Auge.
„Wir wollen ein Zimmer für vier Personen mieten“, erklärte Erny.
„Ein Zimmer? Ja, gut meinetwegen. Aber ich habe meinen Preis!“, entgegnete die alte Schrulle.
„Wir können uns auch nach einem anderen Gasthaus umsehen“, drohte Chanti, denn sie hatte nicht vor, sich von der Alten ausnehmen zu lassen.
Die Frau grinste dreckig. „Ich führe das einzige Gasthaus auf Burg Katzenschreck.“
Chanti rümpfte die Nase. „Und wenn ich mich hier so umsehe, dann habt Ihr Gäste dringend nötig.“
Die Alte schlurfte näher und winkte mit der Hand ab. „Ja, ja. Ihr habt ja recht. Der Laden läuft nicht so gut. Aber zwanzig Bekis auf den Kopf müssen es schon sein.“
„Na schön“, meinte Chanti und gab Erny ein Nicken. Der Zwerg kramte das verlangte Geld aus seinem Lederbeutel und ließ es in die zitternde Hand der Alten fallen. Diese zählte die Münzen misstrauisch durch und ließ sie anschließend in den Weiten ihrer Schürze verschwinden.
„Noch etwas“, sagte Chanti, „Wir haben einen Tiger dabei. Dürfen wir den auf das Zimmer mitnehmen?“
Die Alte verengte die Augen. „Eine Katze? Eine widerliche, stinkende Katze? So ein Ungeheuer verunglimpft mir nicht mein schönes Etablissement! Katzen sind auf Burg Katzenschreck nicht willkommen!“
Und da wurde Chanti schlagartig klar, dass nicht ihnen die abweisenden Blicke auf der Straße gegolten hatten, sondern Nike. Offensichtlich wurden Katzen jeglicher Art hier nicht geduldet. Aber ohne die Tigerdame würden sie in dieser Gaststätte nicht übernachten.
Chanti beugte sich zu Erny hinab und flüsterte: „Wir haben zwar nicht mehr genug Münzen, um sie damit zu bestechen, aber du kannst ihr doch etwas aus deinem Sortiment anbieten, das sie vielleicht umstimmt.“
„Aber-“
„Kein Aber! Wir sind so kurz vor dem Ziel! Hieran darf unsere Mission jetzt nicht scheitern!“
Die Alte verrenkte den Hals. „Was flüstert Ihr denn da?“
Chanti richtete sich wieder auf. „Wir wollen Euch einen Vorschlag unterbreiten. Herr Rosträtchen führt ein sehr breitgefächertes Sortiment an Gegenständen mit sich.“
„Aus echter Zwergenqualität“, fügte Erny hinzu.
Chanti sprach weiter: „Ihr dürft Euch einen Gegenstand davon aussuchen. Im Gegenzug wird uns erlaubt, den Tiger über Nacht mit auf das Zimmer zu nehmen. Wie klingt das?“
Die Alte überlegte einen Moment. Dann sagte sie: „Zeigt doch mal her, diese Gegenstände!“
Die nächste Stunde verbrachten Erny, Chanti und die Alte damit, sämtliche Verkaufsware aus Ernys Rucksack zu kramen und auf den Tischen zu verteilen. Die Alte sah sich jeden Gegenstand an, bis dass jeglicher Krimskrams, den Erny eigentlich zu verkaufen gedacht hatte, ausgebreitet war. Jedoch schien keines der Dinge die Alte zu interessieren; mit geschürzten Lippen nahm sie alles in die Hand und klatschte es dann unbeeindruckt wieder zurück an seinen Platz.
Nachdem sie die gesamte Ware in Augenschein genommen hatte, krächzte sie: „So wird das nichts mit eurem Vorschlag. Hiervon ist mir nichts von Nutzen! Nehmt lieber eure Katze und verschwindet mit ihr!“
Chanti warf Erny einen verzweifelten Blick zu. „Bist du sicher, dass du ihr alles gezeigt hast? Bitte Erny, denk nach. Wir müssen noch etwas finden, das sie umstimmt. Wir müssen!“
Erny hatte noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Aber diesen auszuspielen, würde ihm verdammt wehtun. Er sah Chanti tief in die hoffnungsvollen Augen und seufzte schließlich gequält. „Ein letztes Angebot kann ich noch machen.“
Der Zwerg langte in die Innentasche seines Mantels und holte seine letzte, übriggebliebene Armbanduhr hervor.
Sofort begannen die Augen der Alten zu funkeln. Sie wackelte begeistert mit den langen, knochigen Fingern, bevor sie sich die Uhr aus dem Griff des Zwerges schnappte. Es handelte sich um eine vergoldete Bähring mit perlmuttfarbenem Ziffernblatt.
„D-das ist aber gar keine Damenuhr!“, wandte Erny ein. Das Herz des Zwerges war zwiegespalten: Einerseits hoffte er, die Alte umzustimmen und bald am Ende dieser haarsträubenden Reise angekommen zu sein. Andererseits war dies seine allerletzte Armbanduhr, und er hätte sich lieber eine Niere nehmen lassen, als diese wegzugeben.
Die Alte schien jedoch die Uhr einer Niere vorzuziehen. Mit freudig krächzender Stimme verkündete sie, dass sie dieses Angebot akzeptiere. Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und ging ihrer Wege.
Erny stießen die Tränen in die Augen, er unterdrückte ein wehleidiges Schniefen.
Chanti klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Das war die richtige Entscheidung, Erny.“
Der Zwerg sah zu der Hexe auf. „Das habe ich nur für dich getan, Chanti.“