„Was soll das bedeuten?“ Meli hob die Hand zum Kinn und schaute nachdenklich drein.
„Ich sagte, ich kann es lesen. Was es bedeutet, weiß ich nicht“, sagte Chanti, den Blick immer noch auf die Schrift geheftet.
Eine Wolke schob sich vor den Mond, und infolgedessen schwächelten die leuchtenden Linien auf der Felswand.
„Uns bleibt nicht viel Zeit“, stellte die Hexe fest. „Wenn das Mondlicht schwindet, schwindet auch das Tor. Wir müssen das Rätsel lösen, bevor der Mond endgültig hinter der Wolkendecke abtaucht.“
Meli ging grübelnd im Kreis, Erny hatte sich auf den Boden gesetzt und Chanti stützte sich auf ihren Flugbesen. Wie sehr die drei sich auch anstrengten, den Sinn der Zwergenbotschaft wollte sich ihnen nicht ergeben. Immer wieder drohten die glimmenden Linien auf der Felswand zu erlöschen, bevor sich das Mondlicht dann doch wieder einen Weg durch die Wolkenkluft bahnte und das Tor in neuer Stärke erstrahlte. Doch ewig würde der Mond nicht scheinen, und das Voranschreiten der Nacht setzte die Gruppe nur noch stärker unter Druck.
„Vermaledeit!“, fluchte Meli frustriert. Sie hatte im Feenreich eine vorzügliche Bildung genossen und stets eine helle Freude daran gehabt, ihre Intelligenz in Rätseln auf die Probe zu stellen. Dass sie ausgerechnet jetzt, wo es einmal tatsächlich darauf ankam, das Rätsel nicht zu lösen wusste, versetzte sie in blanke Wut. Zornig kickte sie einen kleinen Kieselstein mit dem Fuß, der in hohem Bogen durch die Luft flog und in Jess´ Gesicht landete.
Die Gestaltwandlerin schreckte aus dem Schlaf auf.
„Bin schon wach!“, murmelte sie schlaftrunken und rieb sich die Augen. Dann sah sie sich verwirrt um. „He, es ist ja noch dunkel! Wer zur Hölle hat mich geweckt?“
Meli sah in eine andere Richtung, um sich nicht zu verraten, und setzte eine unschuldige Miene auf.
Den Mund zu einem lauten Gähnen aufgesperrt erblickte Jess das leuchtende Tor. „Was ist denn das?“, fragte sie in beiläufigem Ton.
„Das ist das Tor zu Mario“, erklärte Chanti. „Doch wir können es nur öffnen, wenn wir das Rätsel lösen.“
„Lass mal hören, dieses Rätsel“, verlangte Jess und stöhnte genervt, als hätte man sie wegen einer Belanglosigkeit aus dem Schlummer gerissen.
„Sprihidefich ihidefich bihidefin eiheidefein ihidefidihidefiohodefot uhudefund trihidefitt eiheidefein“, wiederholte Chanti die Worte, über die sich die Gruppe bereits seit Stunden den Kopf zerbrach.
„Ist doch ganz einfach“, murmelte Jess. „Einer von euch muss sagen, dass er ein Idiot ist. Dann öffnet sich das Tor.“
„Natürlich“, hauchte Erny und schlug sich eine Hand gegen die Schläfe. „Die alte Hühnersprache. Wie konnten wir da nicht draufkommen?“
Auch Meli zog angesichts der Einfachheit eine missmutige Schnute.
„Na dann“, meinte Jess und legte sich wieder hin. Sie drehte sich zur Seite, sodass sie dem leuchtenden Felstor abgewandt war, um besser in den Schlaf zurückzufinden.
Chanti trat vor das Tor und breitete andächtig die Arme aus. „Ich bin ein Idiot!“, sagte sie mit fester Stimme.
Die Linien blinkten kurz blendend hell auf, dann verblassten sie und eine große Flügeltür zeichnete sich ab, wo vorher nicht eine Ritze oder Fuge zu sehen gewesen war. Mit einem knirschenden Geräusch öffneten sich die beiden Flügel nach außen hin; Staub bröckelte zu Boden. Wie von Zauberhand stand der Gruppe nun das Tor zu Mario offen, das bis vor wenigen Stunden noch in der massiven Felswand versteckt gewesen war. Das blasse Mondlicht fiel in die neue Öffnung und gab den Blick auf eine alte, in den Stein gehauene Treppe preis. Der Weg führte abwärts in die Dunkelheit der Bergstollen hinein.
Ein kalter, feuchter Hauch strömte aus dem Höhlenschlund und zerzauste Melis silberblondes Haar. Es war, als hätten die Unheilsberge nach einer Ewigkeit des Stillstehens wieder aufatmen können.
„W-warum hat der Zwergenfürst Mario eigentlich gerade unter den Unheilsbergen gegraben? Der Name verspricht nicht unbedingt viel Erfolg“, fragte Meli. Der Weg unter die Berge machte sie plötzlich nervös, jetzt, da er so düster vor ihr lag.
„Damals hatten die Berge diesen Namen noch nicht“, erklärte Erny. „Den Namen gab man ihnen erst später. Nachdem sich das Reich Marios zugrunde gerichtet hat.“
„Was ist denn damals passiert? Welch Ereignis hat Marios Reich in Vergessenheit geraten lassen?“ Meli schluckte. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort wissen wollte.
Erny schwieg.
Schließlich ergriff Chanti das Wort: „Die Gier Marios war unstillbar. Er ließ sein Volk viele Meilen graben und graben. Bis sie schließlich zu tief gegraben und dabei etwas aufgeschreckt haben, das nicht aus seinem immerwährenden Schlaf hätte geweckt werden dürfen. Irgendein Urwesen hat den Untergang Marios herbeigeführt. Und mit dem Zwergenfürst fiel auch sein ganzes Volk.“