„Ach so“, sagte Jess und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Sie wollte sich umdrehen, als etwas unter ihrem Fuß zersplitterte. Langsam senkte sie den Blick und sprang erschrocken einen Schritt zurück, als sie erkannte, worauf sie getreten war. Der Boden war mit staubbedeckten Knochen übersät. Die schmutzigen Zwergenschädel steckten teilweise noch in rostigen Helmen, und blanke Fingerknochen umklammerten so manche Axt mit gebrochenem Blatt. In dem Raum hatte ein Kampf gewütet, aber er war nicht geplündert worden. Die eisenbeschlagenen Holztruhen, die in Nischen in den Felswänden ruhten, schienen unangetastet.
„Nach dem Untergang Marios hat sich niemand in die Bergstollen hinabgetraut. Nicht einmal Diebe.“ Chanti blickte neugierig zu einer der Holztruhen und entschied, sie nach Hinweisen zu durchwühlen. Ihre Reisegenossen sahen ihr dabei zu, wie sie die Truhe aufstemmte, sich hineinbückte und mit einem vergilbten Buch in den Händen zu Marios Grab zurückstampfte. Im Strahl des durch den Schacht einfallenden Lichtes schlug sie die letzte Seite auf. „Vielleicht haben die Zwerge vor ihrem Untergang niedergeschrieben, was genau sie heimgesucht hat. Dass es ein Ungetüm aus der Tiefe war, wissen wir, aber wie genau es den Untergang dieses Reiches herbeigeführt hat, das blieb all die Jahre ein Rätsel.“ Sie überflog die Zeilen auf dem alten Papier und folgte den Worten mit dem Zeigefinger. Dann nickte sie und rief: „Aha! Hier haben wir es: Das östliche Tor ist versperrt. Der einzige Ausgang führt gen Westen. Die Brücke von Casa Dumm ist unsere letzte Hoffnung. Wenn wir sie nicht vor dem Ballrock erreichen, so sind wir dem Untergang geweiht. Unser Herr Mario ist gefallen. Er möge in Frieden ruhen. Seine Grabkammer dient den letzten Überlebenden als Rückzugsort. Doch ewig können wir uns nicht verschanzen. Wir können nicht hinaus. Es geht zu Ende. Trommeln, Trommeln in der Tiefe. Er kommt.“
„Und was verrät uns dieses kryptische Gekritzel jetzt?“, wollte Jess wissen.
„Sehr viel“, antwortete Chanti und schlug das dicke Buch wieder zu. „Wir wissen, dass die Brücke zu Casa Dumm unser einziger Ausgang ist. Und wir wissen, welches Unglück den Zwergen Marios widerfahren ist. Es war ein Ballrock, der sie überfallen hat. Ein Dämon der Unterwelt. Ein Monster, das seit drei Zeitaltern nicht mehr unter der Sonne gesehen worden ist. Und dann haben die Zwerge es aufgeweckt. Es muss immer noch hier sein.“ Ihre letzten Worte verhallten unheilvoll in der Düsternis.
„Kommt“, sagte Erny. „Lasst uns zurück in die Halle gehen und nach dieser Brücke suchen.“
Die Reisenden nahmen ihre unterbrochene Suche wieder auf und gingen die westliche Hallenwand weiter ab. Nach etwas mehr als einer halben Stunde rief Meli: „Ich habe das westliche Tor gefunden! Dieser Gang muss zu der Brücke führen.“
Ihre Reisegefährten eilten herbei und bestaunten den steinernen Torbogen, der in die glatte Wand eingelassen war.
„Westliches Tor. Brücke von Casa Dumm“, las Chanti die Inschrift vor. „Gut gemacht, Meli.“
In diesem Moment erklang ein Geräusch aus der Weite der Halle. Die Reisenden schnellten herum, aber ihre Augen erblickten nur dicke Säulen und leuchtendes Gestein.
„Habt ihr das auch gehört?“, erkundigte sich Erny flüsternd. Doch es bedurfte keiner Antwort, weil abermals ein Geräusch durch die Halle tönte. Es klang wie leises Getrippel eilender Füße. Irgendetwas schlich in der Finsternis herum.
„Zeig dich!“, forderte Chanti lauthals. Leo versteckte sich wimmernd hinter ihren Beinen.
Zuerst schien es, als würde der Unbekannte nicht auf Chantis Worte eingehen, aber nach ein paar Herzschlägen zeichnete sich ein stechend gelbes Augenpaar in der Dunkelheit ab.
„Oh, ein Kätzchen!“, rief Jess erfreut und machte einen Satz nach vorne. „Ich glaube, ich nenne dich Schatti!“
„Nicht!“, befahl Chanti und versuchte, Jess zurückzuhalten, aber ihre Hand griff ins Leere. Daraufhin breitete sie beidseitig die Arme aus und drängte Meli und Erny hinter sich. „Das ist keine Katze. Das ist der Ballrock!“