Erny holte sich ein Dutzend rohe Eier, Trockenfleisch und eine Eberkeule. Das sollte für die nächsten Tage reichen. Jess schlenderte dem Zwerg hinterher und begutachtete seine Essenswahl mit einer angeekelten Grimasse. Und diesen Müll hatte er auch noch von ihrem Geld gekauft!
„Was ist?“, fragte Erny, nachdem er mit den Zähnen einen großen Bissen aus seiner Keule gerissen hatte und genüsslich kaute.
„Nichts.“ Jess hatte gehofft, im Gewusel der Stadt unauffällig zu entkommen, aber Nike ließ sie nicht aus den Augen. Die Leute wichen der Tigerdame aus und besahen sie mit bangen Blicken. Es war unmöglich, sich mit einer solchen Aufseherin unbemerkt davonzustehlen!
„Du, sag mal“, schmatzte Erny mit vollem Mund. „Meinst du, ich hätte bei Chanti eine Chance?“
Jess blieb stehen, woraufhin der Zwerg ebenfalls anhielt und aus hoffnungsvollen Augen zu der Gestaltwandlerin aufsah.
„Nee“, murmelte Jess eiskalt.
Erny ließ seine Schultern enttäuscht hängen und ging weiter. Die zahlreichen Stände mit Krimskrams für den Heimbastler hoben seine Stimmung jedoch schnell wieder. Rätselschachteln, Okulare, Wurfmesser, Petroleumlampen, Sextanten, Magnete, Modellflugzeuge und Manschettenknöpfe sah er sich an, als wäre er ein Kleinkind, das sich ein Spielzeug aussuchen durfte. Jess interessierten die Sachen keinen Deut, es zog sie eher zum Stand mit den Hütchenspielen. Bevor sie jedoch ein Spielchen mitmachen konnte, wurde sie von Erny weitergescheucht.
Nachdem die beiden eine Zeit lang herumflaniert waren, hatte ein exotisch anmutendes Händlerzelt aus senfgelbem Baumwollstoff Ernys Interesse geweckt. Jess blieb hinter ihm stehen und stöhnte genervt.
Die ausgestellten Gegenstände waren auf einem Tisch ausgebreitet, der mit weißem Seidentuch überzogen war. Erny musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um über den Tischrand spähen zu können. Vor allem die ausgestellten Uhren hatten es dem Zwerg angetan. Eine nach der anderen nahm er in die Hand, um sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu begutachten. Der Standinhaber, ein Turban tragender Elf, beobachtete ihn scharf. Erny wäre bestimmt nicht der erste, der sich einen Gegenstand ansah und dann unauffällig in die eigene Tasche steckte.
Ans Stibitzen dachte der Zwerg jedoch nicht einmal. Es war aufrichtige Faszination, die ihn wie eine eiserne Faust gepackt hatte. Nach einer Weile hielt er dem Elfen eine verzierte Taschenuhr entgegen und fragte lauthals nach deren Preis.
„Huntertfünzig Beki“, antwortete der Elf und setzte ein fieses Grinsen auf.
Erny grummelte in seinen Bart hinein. Dann beugte er sich, so gut es mit seinen kleinen Beinen ging, über den Verkaufstisch und schlug dem Elfen einen Tausch vor: „Ich führe zufällig auch ein paar Gegenstände mit mir. Zwergenkram. Aus echter Zwergenqualität. Korkenzieher, Ferngläser, Zirkel und noch viel mehr. Vielleicht werden wir uns auch ohne Münzen einig?“
Der Elf verfiel in schallendes Gelächter und hielt sich demonstrativ den Bauch fest. Als er bemerkte, dass Ernys Vorschlag ernst gemeint war, verstummte er, beugte sich zu dem Zwerg vor und sagte mit herablassender Stimme: „Nur Bares ist Wahres. Ich tausche nicht. Und schon gar nicht meine kostbaren Uhren gegen einen zwergischen Korkenzieher.“
Erny legte die Taschenuhr wieder zurück an ihren Platz und runzelte grimmig die Stirn. Dann fiel sein Blick auf einen anderen Gegenstand.
„Wie viel für diese Karte?“, fragte er und deutete auf das besagte Stück Pergament.
„Zwanzig Bekis“, sagte der Elf und schaute bewusst desinteressiert auf seine Fingernägel. Offensichtlich hatte er den Zwerg als armen Knacker abgestempelt, der sowieso nichts kaufen würde.
„Fünf“, brummte Erny.
„Achtzehn“, sagte der Elf und sah von seinen Fingernägeln auf. Ein verschmitztes Funkeln hatte sich in seine Augen geschlichen.
Erny grinste. Auch wenn der Elf das Tauschen nicht mochte, das Feilschen schien er zu dulden. Und Erny war gut im Feilschen. „Sechs.“
„Siebzehn.“
„Sieben.“
„Fünfzehn.“
„Sieben!“
„Zwölf!“
„Sieben!“
„Acht. Das ist mein letztes Angebot.“
„Acht und dieses Kaleidoskop.“
„Na gut“, zischte der Elf.
Erny kramte zufrieden in seinem Ledergeldbeutel nach den acht Bekis, legte sie auf dem Tisch ab, schnappte sich die Karte und das Kaleidoskop und fasste Jess schließlich am Ärmel. „Komm wir gehen.“
Nachdem der Elfhändler außer Sicht war, fragte Jess mit gelangweilter Stimme: „Nicht, dass es mich interessiert, aber warum brauchst du denn ein Kaleidoskop?“
„Aus Prinzip. Vielleicht kann ich es ja weiterverkaufen. Ist zwar keine echte Zwergenqualität, aber das muss ja niemand wissen.“ Erny sah zu Jess auf. „Du hast ja noch gar keinen Proviant gekauft! Und einen Rucksack hast du auch nicht.“
„Ihr habt mir keine Zeit gelassen, persönliche Gegenstände vor der Abreise aus Popelburg zu holen“, gab Jess vorwurfsvoll zurück.
„Stimmt. Aber du kannst dich ja hier mit dem Nötigsten eindecken“, sagte der Zwerg und zeigte mit dem Finger auf einen Stand, der Ledertaschen und Stoffbeutel verkaufte. „Hol dir da mal einen anständigen Rucksack. So was wie diesen hier. Den habe ich schon seit ich ein kleiner Zwergenbub war.“
„Und darin schleppst du all deine Ware mit herum?“, fragte Jess und zog eine achtungsvolle Grimasse. Das alte Ding auf Ernys Rücken war ausgefranst und fast so groß wie er selbst. Es musste sehr schwer sein, aber der Zwerg schien keine Probleme mit dem Gewicht seines Gepäcks zu haben.
„Ja“, sagte er stolz und umfasste die Schnallen mit beiden Händen.
Entgegen Ernys ratschlagender Dauerbeschallung kaufte sich Jess einen billigen Jutebeute mit der Aufschrift I was in Gûnerstadt und stromerte dann mit Erny und Nike in den Straßen herum, um sich einen Essensvorrat anzulegen.
„Wie wäre es mit dem Salamistand dahinten?“, schlug Erny vor.
Jess schüttelte den Kopf. Dann entdeckte sie einen Stand, der ganz ihrem Geschmack entsprach, und eilte darauf zu.
„Das kannst du doch nicht mitnehmen!“, nörgelte der Zwerg, während sich Jess ihren Jutebeutel mit Popcorn, gebrannten Nüssen, Zuckerwatte, Nugat und kandierten Äpfeln vollstopfte.
„Mein Geld, mein Essen!“, murrte Jess den Zwerg an und packte provokativ noch eine Rolle Kaugummi obendrauf.
„Aber…“, setzte Erny an, wurde jedoch von einer wütenden Stimme unterbrochen.
„Stopp! Halt! Stehenbleiben, du Bestie!“
Erny und Jess drehten sich neugierig um und stellten überrascht fest, dass Nike nicht mehr hinter ihnen war. Melis Kätzchen lief gerade mit einer Wurstkette im Maul vom Salamistand weg, legte sich in eine freie Ecke zwischen zwei Zelten und begann damit, genüsslich zu futtern.
Ein kleiner Junge mit braungebrannter Haut war Nike hinterhergerannt und stand ihr nun mit in die Hüfte gestemmten Händen gegenüber. „Gib das wieder her, du Dieb! Das gehört dir nicht!“
Jess bezahlte schnell ihre Süßigkeiten und lief dann gemeinsam mit Erny zu Nike hinüber.
„Nike! Böse Katze! Fette, böse Katze!“, schimpfte Erny.
Die Übeltäterin fraß unbeeindruckt weiter.
„Herr, ist das Eure Katze?“, fragte der kleine Junge anklagend. Er trug ein rotes Seidenhemd mit goldenem Saum, eine weite rote Hose und einen roten Deckel auf dem Kopf. Seine Füße waren nackt.
„Ja… Nein… Also, ja. Doch, die gehört zu mir.“
Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich größer als der Zwerg zu machen, und fuchtelte dann aufgebracht mit dem Zeigefinger herum. „Dann müsst Ihr für den Schaden aufkommen!“
„Ja… Also…“, stammelte Erny und suchte verzweifelt nach einer Ausrede. Sein Geld war fast ganz aufgebraucht und die wenigen Bekis, die er noch hatte, wollte er sich für die Weitereise aufheben.
„Fünfzig Bekis!“, verlangte der Junge und hielt die offene Hand hin. Als Erny nicht reagierte, schloss und öffnete der Bursche seine Hand ein paar Mal fordernd.
„Das haben wir gleich“, sagte Erny zu dem Jungen und beugte sich dann zu Nike vor. „Gib mir das! Du kannst später dein Fresschen im Wald jagen!“
Er wollte nach den Würstchen greifen, aber Nike hob die Lefzen und stierte den Zwerg mit angelegten Ohren an. Ein tiefes Knurren ließ ihre Brust vibrieren und ihr Schwanz peitschte drohend hin und her.
Erny richtete sich kapitulierend auf.
Der Junge hielt die offene Hand noch immer ausgestreckt und presste die Lippen so fest zusammen, dass sie weiß wurden.
„Kann ich dir zum Ausgleich für die Würstchen vielleicht einen Tausch anbieten?“, fragte Erny. „Ich führe ein sehr vielfältiges Sortiment an nützlichen Gegenständen mit mir. Aus echter Zwergenqualität. Zum Beispiel dieses wunderschöne Kaleidoskop. Das ist ein echtes Unikat. Eine Seltenheit. Das ist mindestens hundert Bekis wert.“
Der Blick des Jungen glitt prüfend an Erny herab und blieb dann an seinem Handgelenk hängen. „Die Uhr da! Kein Kaleidoskop. Ich will die Uhr!“
Erny schaute gehetzt zwischen dem Jungen und der Armbanduhr hin und her. Nachdem er seine Rohläks und seine Omäga in der Großen Stadt losgeworden war, hatte er sich eine goldene Schmaling ums Handgelenk geschnallt.
„D-das geht nicht. Das ist meine Lieblingsuhr“ stammelte er. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wollte nicht noch eine von seinen kostbaren Lieblingen verlieren. Zudem war es die zweitletzte Uhr, die er besaß.
„Gebt mir die Uhr oder ich hetze die Marktaufseher auf Euch“, verlangte der Junge erbarmungslos.
Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge legte Erny die Uhr ab und ließ sie in die kindliche Hand des Burschen fallen.
Der Junge grinste zufrieden. „Mein Onkel sucht seit Jahren nach einer hübschen Armbanduhr. Er wohnt in der Großen Stadt und betreibt dort ein Gasthaus, müsst Ihr wissen. Da kommt er nicht sehr weit herum. Ich werde sie ihm schicken. Bis dann, Alter!“
Erny und Jess schauten dem Burschen nach, als dieser auf schnellen Füßen zurück zu seinem Salamistand lief.
Griesgrämig senkte Erny den Blick auf Nike. Die Tigerin leckte sich gerade über die Schnauze und schnurrte wonnevoll mit geschlossenen Augen.
„Diese Reise beginnt, mich bei Weitem zu viele Uhren zu kosten“, brummte der Zwerg.