„Das sind Killer-Yorkies!“
Chanti beäugte die kleinen, wuscheligen Wesen, die die Reisegefährten mit gefletschten Zähnen und blutunterlaufenen Augen von allen Seiten belauerten. Schaumiger Geifer tropfte von ihren Schnauzen und ihre Körperhaltung verriet erbarmungslose Kampfbereitschaft. Der Feuerschein umfasste nur einen kleinen Teil des Rudels, das das Lager umzingelt hatte, denn in der Dunkelheit reflektierten noch unzählige weitere Augenpaare das spärliche Licht.
Meli versuchte, die Killer-Yorkies zu zählen, gab aber rasch auf. Es mussten hunderte sein!
„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte sie mit vor Panik piepsiger Stimme.
„Wir müssen uns verteidigen!“, sagte Chanti entschlossen und schnappte sich einen aus dem Lagerfeuer herausragenden Ast, den sie wie ein flammendes Schwert vor sich hielt.
Die Killer-Yorkies zogen den Kreis immer enger um die Gruppe.
„Du hast doch einen Zauberstab, Meli! Unternimm etwas!“, schrie Jess.
„Ich kann mit Feenmagie keinem Lebewesen Schaden zufügen“, erklärte Meli bedauernd.
Jess zischte einen Fluch, den man ihm Fernsehen hätte zensieren müssen, bevor sie mit fester Stimme rief: „Dann soll Chanti eben irgendeinen Spruch aufsagen! Sie ist schließlich eine Hexe.“
Chanti schwang die brennende Fackel in ihrer Hand und hielt sich die stetig näherkriechenden Killer-Yorkies damit notdürftig vom Leib. „Frag mich nach dem Rezept für einen Zaubertrank und ich rattere dir ein ganzes Kochbuch herunter. Aber Zaubersprüche habe ich mir noch nie merken können.“
Jess gab einen frustrierten Laut von sich. „Aargh! Da hat man zwei magische Menschenwesen dabei und sie sind so nützlich wie eine Horde brabbelnder Babys!“
Die Killer-Yorkies fauchten und knurrten. Auch wenn sie von kleiner Statur waren, könnten sie die Reisenden durch ihre schiere Überzahl überwältigen und anschließend mit ihren spitzen Zähnen zerfleischen. Einer von ihnen hatte es auf Meli abgesehen und setzte zum Sprung an, doch bevor er sein Ziel erreichen konnte, hatte Nike das kleine Biest mit der Tatze abgewehrt. Meli klammerte sich verängstigt an Jess fest. Die Gestaltwandlerin erstarrte. Doch auch sie hatte die Furcht gepackt, weshalb sie Melis Umklammerung bald erwiderte und sich die beiden jungen Frauen zu einem schlotternden Häufchen vereinten.
„Jetzt, da wir sowieso sterben werden, kann ich dir ja das Geheimnis der Gestaltwandler verraten“, sagte Jess mit zittriger Stimme. „Alle Gestaltwandler sind weiblich. Und das hier ist der Körper, mit dem ich geboren wurde. Vor 21 Jahren.“
Meli bekam Tränen der Rührung – oder der Angst (sie wusste es selbst nicht) – in die Augen. „Ich trage ebenfalls die Last eines Geheimnisses mit mir“, schluchzte sie. „Ich bin die verschwundene Prinzessin des Feenreiches. Zusammen mit Nike bin ich meinem Schicksal in den Landen- der-In-der-Sonne-glitzernden-Wasserfälle entflohen.“
Auch Chanti und Erny waren angesichts ihrer verzweifelten Lage zusammengerückt, allerdings hielten sie sich nicht in den Armen.
„Keine Angst, Chanti. Ich werde dich beschützen“, brummte der Zwerg und trat unerschrocken einen Schritt vor die Hexe. Seine Axt glänzte im goldenen Feuerschein.
„Ich kann mich durchaus selbst beschützen“, entgegnete Chanti forsch, allerdings strafte ihre Stimme ihren Worten Lügen.
Die Situation war aussichtslos. Chantis brennender Ast, Ernys Zwergenaxt und Nikes krallenbesetzte Pfoten würden die Killer-Yorkies nicht ewig abwehren können.
Meli schloss die Augen und rief theatralisch: „Adé, du grausame Welt!“
Dann sprang plötzlich eine weitere Gestalt aus den Büschen des Heulenden Waldes und bahnte sich einen Weg bis zu den eingekesselten Gefährten. Sie stellte sich todesmutig zwischen die Reisegruppe und die nach Blut ächzenden Killer-Yorkies.
„Atani!“, rief Erny überrascht. Die Wüstenwölfin musste ihm den ganzen Weg bis hierher gefolgt sein. Auf dürren Beinen stand sie da und überragte die Killer-Yorkies um wenige Kopflängen. Die scheue Liebenswürdigkeit war aus ihren Augen verschwunden; sie hatte die Lefzen hochgezogen und knurrte aggressiv. Die Killer-Yorkies verstummten verunsichert, wichen jedoch keinen Zentimeter zurück. Dann legte Atani den Kopf in den Nacken, streckte die Brust raus und ließ ein Heulen ertönen, für das Erny sie nicht in der Lage gehalten hätte.
Die Killer-Yorkies zogen die Köpfe zwischen die Schultern und klemmten die Schwänze ein. Einige fiepten wie kleine Welpen, die ihre Mutter aus den Augen verloren hatten. Schließlich ebbte Atanis Geheul ab und die Wüstenwölfin senkte den Kopf wieder. Das Echo ihres gewaltigen Wolfsschreis hallte noch eine ganze Weile durch den Kiefernwald.
Die Killer-Yorkies hatten ihre furchteinflößende Kampfhaltung aufgegeben. Einer von ihnen trat aus seinen Reihen hervor und schnupperte vorsichtig an der Wüstenwölfin. Nach ein paar Sekunden begann sein Schwanz freudig in der Luft zu wedeln und die anderen Rudelmitglieder taten es ihm nach. Sie sahen plötzlich überhaupt nicht mehr bedrohlich, sondern fast schon niedlich aus.
„Was ist da gerade passiert?“, flüsterte Meli.
„Ich denke, die Killer-Yorkies haben Atani zu ihrem neuen Alphatier auserkoren“, erklärte Erny und ließ seine Axt sinken.
Atani entspannte die Muskeln. Sie drehte den Killer-Yorkies den Rücken zu und sah Erny aus sanften Augen an.
Der Zwerg tätschelte ihren hellbraunen Kopf. „Das hast du gut gemacht, meine Große!“
Atani leckte Erny kurz die Hand, drehte sich aufgeregt im Kreis und trabte anschließend zu den Büschen zurück, aus denen sie hervorgesprungen war. Sie drehte den Kopf ein letztes Mal zu den Reisegefährten.
„Ja, meine Hübsche. Geh mit deinem neuen Rudel“, bestärkte Erny sie und winkte ihr zum Abschied. Er war sich sicher, dass die Wölfin ihm von nun an nicht mehr folgen würde.
Atani drehte sich weg und verschwand in der Dunkelheit. Die Killer-Yorkies folgten ihr auf kurzen Beinchen, bis die Reisenden allein zurückblieben und wieder Ruhe im Lager eingekehrt war.
Einzig Leos Schnarchen durchschnitt die wiedergewonnene Stille; der Welpe war in Chantis Leinentücher eingekuschelt und hatte den Angriff der Killer-Yorkies komplett verschlafen.