Meli bedeutete ihrer Tigerkatze, die Pfote von Schleicher zu nehmen. Widerwillig gab Nike ihre Beute frei und setzte sich mit aufgerichteten Ohren hin.
Schleicher raffte sich auf und hielt sich das linke Handgelenk mit schmerzverzogenem Gesicht fest. Obwohl der Hüne sich in eine zierliche Frau verwandelt hatte, überragte diese Chanti und Meli noch immer um eine Kopfhöhe.
„Hast du dir wehgetan?“, fragte Meli.
Schleicher schüttelte den Kopf.
„So“, sagte Erny mit in die Hüften gestemmten Armen, „Und jetzt verrätst du uns deinen richtigen Namen.“
„Jess“, murmelte die junge Frau resigniert. „Mein Name ist Jess.“
„Uhh! Welch wohlklingender Name!“ Meli klopfte begeistert in die Hände.
„Was wollt ihr von mir?“, fragte Jess.
„Wir brauchen deine Hilfe“, erklärte Erny.
Jess stierte den Zwerg argwöhnisch an. „Warum sollte ich euch helfen?“
„Weil du in der Falle sitzt?“, meinte Chanti patzig.
Die linke Augenbraue in Jess´ Gesicht schoss in die Höhe. „Ich kann mich in alles verwandeln, was ich berührt habe. Zum Beispiel in den fetten Tiger dort. Dann wärt ihr wohl kaum in der Lage, mich aufzuhalten.“
„Wir wären trotzdem in der Überzahl“, hielt Chanti unbeeindruckt dagegen.
Meli riss fasziniert die Augen auf. „Es bedarf also nur deiner Berührung, um dich in jedwedes Lebewesen zu metamorphosieren?“
„Ja“, antwortete Jess.
„Und so ergaunerst du dir auch dein Geld“, brummte Erny und zückte drohend seine Zwergenaxt. „Gib es zu!“
„Ist ja gut. Ihr habt recht!“, sagte Jess und hob beschwichtigend die Hände. „Ich habe mal einen Koloss von Mann berührt und seither ziehe ich durch die Lande und fordere betrunkene Schankgäste zu Wettspielen heraus. Ich verwandele mich in den Hünen, nehme die Dorfleute ein paar Wochen lang aus und ziehe schließlich zum nächsten Dorf weiter.“
„Du bist ein Betrüger!“, rief Chanti verärgert.
„Oder eine Betrügerin“, stellte Meli mit erhobenem Zeigefinger klar und wandte sich dann interessiert an Jess. „Führst du gegenwärtig deinen gebürtigen Körper? Welch fleischliche Hülle ist die deinige? Bist du ein Mädel oder ein Kerl?“
„Ein Gestaltwandler verrät niemals seine wahre Identität“, fauchte Jess, ohne Meli jedoch aus der Ruhe bringen zu können. Die Fee musterte Jess eingehend, als ob sie selbst herausfinden könnte, wie die Gestaltwandlerin wirklich aussah.
„Genug geplaudert“, herrschte Chanti Jess an. „Ob Männlein oder Weiblein, wenn du nicht mit uns kommst, dann zerren wir dich vors Oberste Gericht und dann musst du dich vor dem Orakel verantworten. Für deine Gaunerspielchen kommst du in den Kerker!“
Jess wich erschrocken zurück, bis ihr Rücken gegen eine Häuserfassade knallte. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden. „Das… das könnt ihr nicht tun.“
Chanti trat einen Schritt auf Jess zu und stieß ihr den Zeigefinger auf die Brust. „Oh doch! Das können wir! Außer, du hilfst uns bei unserem Problem. Dann können wir eventuell über deine kriminellen Machenschaften hinwegsehen.“
Die Hexe und die Gestaltwandlerin funkelten sich eine Weile herausfordernd an, bis Jess schließlich den Blick senkte und sich zähneknirschend einverstanden erklärte.
„Sehr gut“, sagte Erny zufrieden, „Dann können wir uns jetzt für die Nacht in der Herberge einquartieren.“
„Und unsere neue Freundin kann bezahlen“, entschied Chanti und machte auf den Fersen kehrt, damit ihr niemand widersprechen konnte.
Erny, Chanti und Meli verließen die Gasse und schlenderten den Weg zum Infernalischen Martyrium zurück, den sie gekommen waren. Nike stupste Jess mit dem Kopf an, damit sie sich in Bewegung setzte, und passte auf, dass sich die Gestaltwandlerin nicht davonstahl.
In der Herberge nahmen sich die Reisenden ein großes Zimmer, sodass Chanti, Erny und Meli ihre neue Reisebegleiterin die Nacht über im Auge behalten konnten. Chanti rief Jess zusätzlich in Erinnerung, dass Nike vor der Herberge schlief und bei dem kleinsten Geräusch Alarm schlagen würde. Oder ihren Hunger stillen – je nach dem. Eine Flucht käme also nicht in Frage.
Jess gab sich schweigsam ihrem Schicksal hin. Ab und zu warf sie ihren Zimmergenossen finstere Blicke zu, aber sie war sich bewusst, dass sie nicht entkommen konnte. Das Orakel des Obersten Gerichts war eine Hellseherin, die sofort sehen würde, dass Jess seit Jahren ahnungslose Bauern und streitsüchtige Trunkenbolde abzockte. Sollten diese Quatschköpfe mich also tatsächlich vor Gericht schleppen, wäre ich meiner Freiheit mit ziemlicher Sicherheit auf unbestimmte Zeit beraubt, dachte Jess.
Sie fragte nicht, wofür ihre Hilfe eigentlich gebraucht wurde, denn die Probleme ihrer Erpresser interessierten sie nicht. Stattdessen verschanzte sie sich in ihrem Bett unter der Decke und schmollte die nächsten Stunden vor sich hin.
Am nächsten Tag war es Meli, die sie sanft an der Schulter wachrüttelte. Irgendwann spät in der Nacht musste Jess wohl eingeschlafen sein. Sie mochte es gar nicht, so früh geweckt zu werden, und brummte nur missgelaunt.
Chanti ging zu den Fenstern hinüber, schob die Vorhänge zur Seite und ließ die Strahlen der Morgensonne in das Zimmer fallen.
Die Gestaltwandlerin zog sich die Decke über den Kopf, um es wieder dunkel zu machen.
Daraufhin trat Chanti forschen Schritts zu Jess´ Bettstätte und baute sich bedrohlich davor auf. „Wenn du nicht gleich aufstehst, darfs du dich in ein Maulesel verwandeln und den Rest des Weges unser Gepäck schleppen“, sagte sie mit strenger Stimme.
„Oh Mann!“, fluchte Jess, schlug jedoch die Decke um und machte sich reisefertig.