Nach Fennigans Entschuldigung ging es Violet deutlich besser. Auch die anderen aus ihrem Jahrgang benahmen sich ihr gegenüber nicht mehr so blöd wie vorher. Allerdings wusste sie nicht, ob das mit ihr oder dem Auftritt ihres Vaters zu tun hatte. Garantiert wollte niemand riskieren so wie Fennigan aus dem Unterricht geholt zu werden. Violet war es jedoch recht so. Das war besser als das ständige Getuschel hinter ihrem Rücken. Vereinzelt begleitete sie das zwar immer noch, aber es war bei weitem nicht mehr so schlimm wie zu Beginn des Schuljahres.
Die Wochen bis zu den Herbstferien vergingen erstaunlich schnell. Halloween stand vor der Tür und alle freuten sich auf das Festessen in der großen Halle. Zuhause feierten sie solche Feste meist nur in einem sehr kleinen Rahmen, selbst Weihnachten hingen sie nicht an die große Glocke. In Hogwarts hingegen schien es kein anderes Thema unter den anderen Kindern zu geben. Am Abend begriff Violet auch warum. In der großen Halle schwebten statt den Kerzen ausgehöhlte Kürbisse mit grimmigen Gesichtern. Schwärme von Fledermäusen anstatt von Eulen flogen herum und auf den Tischen stapelten sich Puddings, Kuchen, gefüllte Blätterteigtaschen und jede Art von Süßigkeiten, die man sich vorstellen konnte. Das Essen schien noch gigantischer zu sein als am Tag der Eröffnungsfeier.
Man sah es Violet nicht an, da sie die hagere Gestalt ihres Vaters geerbt hatte, aber sie vertilgte Süßigkeiten für ihr Leben gern. Überhaupt schien sie essen zu können, was sie wollte ohne auch nur ein Pfund zuzunehmen. Ausgestattet mit dieser seltenen Eigenschaft machte sie sich über alles her, was in ihrer Reichweite lag. Glücklich und völlig überfressen lag sie später in ihrem Bett im Ravenclawturm. Der einzige Nachteil war, dass sie die kommende Nacht wirklich ausgesprochen krudes Zeug träumte. Violet wurde im Schlaf von überlebensgroßen Kürbissen gejagt, die sie fressen wollten. Sie entwischte dem Gemüse immer gerade so und als die ersten Sonnenstrahlen sie weckten blinzelte sie äußerst verwirrt in das anbrechende Tageslicht und fragte sich für einen Augenblick wo die fiesen Kürbisse abgeblieben waren bis ihr gewahr wurde, dass sie den ganzen Quatsch nur geträumt hatte.
Violet sprang aus dem Bett und zog sich an. Bereits im Gemeinschaftsraum fiel ihr auf wie dieser sich geleert hatte. Die Ferien gingen zwar nur knapp eine Woche, aber dennoch fuhren einige der Schüler über die Feiertage nach Hause. Sie ging hinunter in die große Halle, um etwas zu essen. An den Haustischen saßen nur noch eine Hand voll Schüler und es war erstaunlich still während des Frühstücks. Nach dem Essen ging Violet wieder hinaus. In der Vorhalle blieb sie abrupt stehen. Im großen Eichenportal stand ihre Mutter und zu ihrer noch größeren Überraschung Onkel Lucius. Gut, er war nicht wirklich ihr Onkel, aber was machte das schon?
Violet stürmte auf die beiden zu und ließ sich umarmen. Beide waren sie groß und blond und während ihre Mutter ihr langes Haar zu einem Zopf geflochten trug hatte Onkel Lucius kurze Haare und einen ziemlich stoppeligen Bart, der langsam ins Grau tendierte. Außerdem trug er einen schwarzen Anzug und Krawatte und hatte sich einen langen Mantel übergeworfen, während ihre Mutter ein langes, grünes Kleid unter ihrem Reiseumhang trug.
„Wo ist dein Vater?“, fragte Lucius sie.
„Keine Ahnung. In der Halle war er nicht.“, gab Violet zurück.
„Sicher ist er oben.“, sagte ihre Mutter und ging voran.
Sie stiegen hoch in den Turm des Schulleiters. Ihr Vater saß am Schreibtisch und schrieb an irgendetwas. Er bemerkte sie zunächst gar nicht, so vertieft war er. Schließlich sah er jedoch auf und erhob sich.
„Schön, dass ihr es einrichten konntet.“, sagte Severus.
Ihre Mutter umarmte ihn und küsste ihn sanft auf die Wange, während er Onkel Lucius per Handschlag begrüßte.
Narzissa nahm ihre Tochter zur Seite und setzte sich mit ihr auf die Couch vor dem Kamin. Severus und Lucius redeten leise über etwas, was Violets Ohren jedoch entging.
„Wie geht es dir?“, fragte Narzissa. „Dein Vater meinte du hättest keinen guten Start gehabt.“
Violet schnaufte ungehalten.
„Jaaa.“, sagte sie gedehnt. „Meine Mitschüler sind Idioten.“
„Warum? Was ist passiert?“, fragte ihre Mutter besorgt.
„Die denken ich sei irgendwie was besseres, weil mein Dad der Direktor ist. Es geht jetzt aber besser nachdem ich einen verprügelt habe.“, sagte Violet.
„Du hast was?“, entfuhr es Narzissa.
„Dad hat mir schon 'ne Standpauke gehalten.“, meinte Violet.
„Das möchte ich ihm auch geraten haben.“, entgegnete ihre Mutter.
„Es ist wegen seinem Ruf.“, sagte Violet. „Jeder denkt, dass ich immer kurz davor bin jemanden zu verfluchen oder zu vergiften. Sie sind nicht fair zu mir.“
„Und nicht fair gegenüber deinem Vater.“, fügte Narzissa hinzu.
„Das weiß ich!“, gab Violet zurück. „Es ist nur ziemlich schwierig so Freunde zu finden.“
Ihre Mutter nahm sie in den Arm.
„Du sagtest es sei jetzt besser?“, fragte sie.
„Etwas. Ich denke, sie sind eingeschüchtert wegen Dad. Keine Ahnung wie lange das anhalten wird.“, sagte Violet.
„Wenn sie dich wieder versuchen zu ärgern und aufzuziehen, dann musst du cool reagieren. Ich weiß, das ist schwer ...“
„Ach, du klingst wie Dad! Er meinte ich solle keine Angriffsfläche bieten. Aber wie soll das gehen? Du hättest sie hören sollen! Da wärst du auch ausgeflippt!“, sagte Violet.
„Dann versuch nicht auszuflippen. Ich wette sie werden es sich zweimal überlegen, wenn du ihnen kalt begegnest. Meine Schulzeit hatte auch ihre Tiefpunkte musst du wissen.“
„Du hattest Tante Bella ...“, begann Violet.
„Tante Bella war nicht besonders hilfreich!“, unterbrach ihre Mutter sie strikt.
„Ja, aber sie ist deine große Schwester, oder?“, fragte Violet. „Wäre ich eine große Schwester, dann hätte ich dich raus gehauen.“
„Das ist wirklich sehr lieb von dir.“, sagte Narzissa und drückte sie an sich. „Nein, ich und deine Tante … sagen wir einfach, wir hatten schon als Kinder unsere Differenzen.“
„Das ist aber eine Untertreibung.“, sagte plötzlich die Stimme von Lucius hinter ihnen. „Deine Mutter hat sich mit Bellatrix geprügelt. Mehr als einmal.“
„Danke Lucius.“, entgegnete Narzissa angefressen und warf ihm einen finsteren Blick zu. Bevor sie etwas entgegnen konnte kam jedoch Severus dazu.
„Also schön, wer hat Lust auf frische Luft? Ich könnte gerade welche vertragen.“, sagte Severus und warf sich seinen Mantel über. Violet sprang auf und folgte ihrem Vater nach draußen. Dabei bemerkte sie nicht wie ihre Mutter und Onkel Lucius sich taxierten.
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Severus lief neben Lucius über den Pfad, der um das Schloss herumführte. Violet und Narzissa waren etwas weiter hinter ihnen. Im Grunde wollte er nur nach draußen damit er ohne neugierige Ohren mit Lucius reden konnte. Im Schloss, selbst im Büro des Schulleiters, war ihm das zu unsicher.
„Also, was sagt man über den Dunklen Lord?“, fragte Severus ihn.
„Die Todesser sind unzufrieden. Sie glauben er wird langsam schwach.“, entgegnete Lucius.
„Das haben sie auch mal vereinzelt von mir geglaubt. Es ist doch ein Sport von Unsereins, den jeweils anderen für einen Schwächling zu halten.“, antwortete Severus.
„Das hier erscheint mir anders. Es ist nicht das übliche Gezänk. Er ist seit über zehn Jahren unangefochten an der Macht, aber den Todessern versprach er sie daran teilhaben zu lassen. Das ist nicht passiert.“, sagte Lucius.
„Ist ernsthaft einer von diesen Flachköpfen überrascht, dass er sein Versprechen gebrochen hat?“, erwiderte Severus amüsiert. „Von wem geht es aus? Von Yaxley? Ich könnte mir vorstellen, dass es ihm nicht reicht den Posten des Ministers bekommen zu haben nachdem Pius nicht mehr dazu in der Lage war. Er weiß einfach nicht was gut für ihn ist. Er wird wie Pius enden, wenn er den Bogen überspannt.“
„Einige meinen der Dunkle Lord habe unter anderem dir zu viel durchgehen lassen.“, sagte Lucius.
„Mir?“ Severus rümpfte die Nase.
„Nun, du hast dich in einigen Fragen der Organisation eiskalt über den Dunklen Lord hinweg gesetzt und das ziemlich erfolgreich. Du lebst immerhin noch.“, antwortete Lucius.
„Man muss eben wissen wie man es macht.“, sagte Severus.
„Deshalb meinen einige auch die Rechte Hand des Dunklen Lords habe mittlerweile zu viel Macht.“
„Blödsinn. Wer hat das behauptet?“, fragte Severus. „Ich bin der Direktor einer Schule. Rechte Hand hin oder her!“
„Ich sage es dir klipp und klar: Eine Verschwörung gegen dich und den Dunklen Lord ist im Gange. Vermutlich werden sie während der Feierlichkeiten im Mai zuschlagen.“
„Ach, und woher nimmst du diese Erkenntnisse?“, fragte Severus.
„Vom Dunklen Lord persönlich, Severus. Er wollte dich nicht vorladen, um Aufmerksamkeit zu vermeiden. Und er will, dass du die Verschwörer enttarnst und eliminierst.“, sagte Lucius.
„Natürlich kommt er mit so was zu mir. Aber warum so kompliziert? Er hätte alle Macht der Welt das selbst zu erledigen.“, antwortete Severus.
„Ich bin nur der Überbringer der Nachricht. Wie sagte er noch gleich? Ich bin entbehrlich genug.“, sagte Lucius grimmig.
„Ich vermute, dieser ganze Festakt dient nur dazu, um die Verschwörer herauszulocken. Er schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe. Welche Machtdemonstration könnte größer sein als am Tag seines größten Sieges auch gleich noch die eigenen Reihen zu säubern.“
Lucius sah ihn an und wirkte auf einmal als sei ihm unwohl.
„Sag mir nicht, dass du da mit drin hängst?“, fragte Severus.
„Gott nein, das versichere ich dir. Die Sache ist nur ...“ Lucius senkte deutlich seine Stimme. „Vielleicht sollten wir es geschehen lassen?“
„Bist du wahnsinnig?!“, fauchte Severus ihn an. „Wenn er erfährt, was du da von dir gibst …!“
„Ich weiß.“, sagte Lucius. „Aber ich habe mich mehr als einmal gefragt, was passiert wäre, wenn die Schlacht anders ausgegangen wäre. Vielleicht würde mein Sohn noch leben, dann würden wir diese Unterhaltung nicht führen!“
„Wir können die Vergangenheit nicht ändern, sondern nur die Gegenwart akzeptieren. Und die Gegenwart ist nun mal, dass der Dunkle Lord unangefochten herrscht. Du solltest wirklich still sein, wenn dir dein Leben lieb ist! Am Ende fällt das noch auf mich zurück!“, entgegnete Severus.
„Es tut mir leid.“, sagte Lucius.
„Mhpf!“, machte Severus ungehalten. Er wusste, dass Lucius seit dem Tod von Draco nicht mehr der Alte war und dass seine Frau ihn für Severus verlassen hatte machte es kaum besser. Er hatte in langsamer, mühseliger Arbeit ihre Freundschaft wiederhergestellt, doch Lucius gab insgeheim dem Dunklen Lord die Schuld an allem. Damit lag er zwar nicht falsch, doch sollten seine Gedanken je an ihren Meister herangetragen werden, dann erwartete ihn ein äußerst schmerzhafter Tod – so wie alle Verräter.
Severus würde jedoch nicht das Leben seiner Tochter oder das von Narzissa gefährden für eine Traumtänzerei. Der Dunkle Lord hatte gesiegt und damit basta! Es gab keine Chance mehr das zu revidieren. Und die meisten Menschen mit Verstand begriffen das auch.
„Kein Wort mehr darüber!“, ermahnte Severus Lucius. Dieser nickte schweigend. Wenn das mit der Verschwörung stimmt, dann hoffte er inständig sein Freund ließe sich nicht zu einer Dummheit hinreißen. Severus hatte keine Lust ihn neben Draco begraben zu müssen. Noch weniger Lust hatte er jedoch darauf, dass der Blick des Dunklen Lords auf ihn fiel. Severus hatte selbst einige Geheimnisse, die seinen Tod bedeuten würden, sollten sie jemals ans Tageslicht gelangen. Solange der Dunkle Lord jedoch abgelenkt war hatte er keine Zeit sich um seine Loyalität Gedanken zu machen. Und so sollte es gefälligst auch bleiben!