Irgendwie war Violet ja froh, dass sie für's erste nicht mehr in die Schule gehen sollte. Als ihre Mutter sie abholte wirkte diese beunruhigt und sicher würde sie noch einiges an elterlichen Fragen über sich ergehen lassen müssen. Jetzt jedoch wollte sie nichts mehr als nach Hause zu gehen und so zu tun als hätte sie nicht jemand völlig unbeteiligten reif für den Krankenflügel geschlagen. Sie kannte sich ja selbst nicht einmal so. Wie sollte sie es da ihren Eltern erklären?
Ihr Vater hatte sie zum Glück in Ruhe gelassen. Mehr als ein verstehendes „Mhm-Mhm“ kam von ihm nicht. Das war auch gut so. Violet hatte nämlich absolut gar keine Lust mit ihm darüber zu reden. Mit ihrer Mutter eigentlich auch nicht, aber das war immer noch etwas anderes. Vielleicht.
Zuhause ließ ihre Mutter sie für den Großteil der Zeit in Ruhe. Violet verkroch sich in ihrem Zimmer und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Überhaupt verbrachte sie außerordentlich viel Zeit im Bett. Seit sie wieder Zuhause war fühlte sie sich matt und wollte am Liebsten nur noch schlafen. Fast so als hätte ihr der Gefühlsausbruch vor ihrer Lehrerin all ihre Kraft geraubt.
Ihre Mutter nahm es hin. Sie sah ab und zu nach ihr und stellte ihr Essen vor die Tür. Anders als Violet erwartete gab es kein elterliches Verhör. Ganz im Gegenteil. Ihre Mutter ließ sie in Ruhe. Sie fürchtete sich, ehrlich gesagt, davor den ersten Schritt zu machen.
Tagelang schob sie es vor sich her und dann eines Nachmittags kam ihre Mutter zu ihr, setzte sich auf den Rand des Bettes und nahm ihr diese Entscheidung ab.
„Willst du reden?“, fragte Narzissa.
Violet setzte sich auf. Traurig blickte sie ihre Mutter an.
„Ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Immer bin ich traurig und wütend und kurz davor auszurasten. Ich bin wütend auf Dad, auf mich selbst, auf alles und jeden. Kurz und klein schlagen könnte ich alles. Jetzt hingegen bin ich so müde.“
„Weißt du warum er es getan hat?“, fragte Narzissa sie.
„Weil er es tun musste? Was heißt das? Warum zwingen sie mich, dich, uns dazu?“, entgegnete Violet ihr und spürte erneut wie es in ihr kochte.
„Weil der Dunkle Lord ein sehr böswilliger Mann ist. Er hat nicht nur Lucius bestraft, sondern auch uns, einfach weil ihm der Sinn danach stand, weil es in seiner Macht lag und wir nichts dagegen tun konnten.“, erklärte ihre Mutter und ihre Stimme zitterte furchtsam.
Violet hatte sie noch nie ängstlich erlebt, aber der Gedanke an das Geschehene schien auch sie zutiefst in Schrecken zu versetzen.
Wie all die anderen Kinder war auch sie aufgewachsen mit den Geschichten über den Dunklen Lord und seine unglaubliche Macht und wie er allein die magische Welt geeint hatte. Niemand in ihrem Alter hätte ernsthaft daran gezweifelt, dass all das genau so geschehen war und der Dunkle Lord ihren absoluten Respekt, wenn nicht gar ihre Liebe verdiente. Zum ersten Mal fühlte Violet sich betrogen, was diese Legende betraf. Warum erzählten die Erwachsenen solche Sachen, wenn sie gar nicht stimmten?
Ihre Mutter nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Kopf.
„Warum tut er so etwas?“, fragte Violet.
„Das ist Politik.“, sagte Narzissa. „Deshalb darf man auch nicht das Glauben, was man hört. Je mehr Macht ein Mensch hat desto skrupelloser wird er.“
„Und Dad?“, fragte Violet.
„Dein Vater versucht uns zu beschützen, doch leider funktioniert das nicht immer. Du darfst nicht böse auf ihn sein, auch wenn er manchmal schlimme Dinge tut.“, antwortete ihre Mutter.
„Aber warum muss er sie überhaupt tun?“, fragte Violet.
„In seiner Position ist er dazu gezwungen. Würde er offen widersprechen, dann würde das keiner von uns lebend überstehen. Da ist es auch egal, dass er der Schwarze Falke ist.“, erklärte ihre Mutter.
„Wozu so ein Ruf, wenn er am Ende doch nichts nützt?“, fragte Violet etwas enttäuscht von ihrer Antwort.
„Er schützt uns nicht vor dem Dunklen Lord, aber vor denjenigen, die uns etwas wollen, um ihm zu gefallen. Die überlegen es sich zweimal bevor sie sich mit ihm anlegen. Unser Leben hat seinen Preis.“, sagte Narzissa.
„Warum lassen die uns nicht einfach in Ruhe?“, fragte Violet.
„Weil Männer wie dein Vater nie in Ruhe gelassen werden und weil die Todesser ein Nest voller Schlangen sind. Man muss immer aufpassen, dass sie nicht zubeißen. Das erzählst du aber keinem, ja?“
„Wem sollte ich es schon erzählen? Etwa meinen zahlreichen Schulfreunden?“, antwortete Violet grimmig.
Ihre Mutter antwortete nichts darauf, sondern legte nur ihre Hände in den Schoß und blickte betrübt drein.
„Ich habe das alles so satt, meine Kleine.“, sagte sie dann plötzlich.
Narzisse schüttelte den Kopf und erhob sich. Ohne ein weiteres Wort ging sie aus dem Zimmer ihrer Tochter.
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Das Wetter verschlechterte sich zunehmend und schon bald fielen die ersten Flocken vom Himmel. Violet war daher mehr als froh ihrer Mutter im Labor helfen zu können. An dem warmen Kessel musste sie wenigstens nicht daran denken wie kalt es um diese Jahreszeit schon wieder war.
Violet half dabei Zutaten zu zerkleinern, leere Einmachgläser aufzuwaschen, Kessel zu schrubben und schaute ihrer Mutter ab und an dabei zu wie sie Tränke machte.
„Hier.“, sagte Narzissa und reichte ihr ein Buch. „Damit du nicht einrostest, während du Zuhause bist.“
Es war „Zaubertränke für Fortgeschrittene“. Das Buch „Zaubertränke für Anfänger“ kannte Violet schon seit sie acht war auswendig. Die Tränke, die darin enthalten waren, kannte sie schon ein bisschen. Sie hatte schon mit dem Buch gearbeitet, war aber noch nicht weit. Sie schlug es auf und las. Die fortgeschrittenen Tränke beschäftigten sich vor allem mit Gegengiften und Tränken, die die Wirkung anderer Tränke aufhoben. Etwa einem Anti-Liebeszaubertrank. Ihr Vater hatte immer gesagt: „Der Gegentrank ist das Geschäft des Alchemisten.“ Man konnte alles mögliche zusammenbrauen, aber wenn man nicht wusste wie man die Wirkung wieder rückgängig machte konnte man sich selbst schnell in die Bredouille bringen.
Sicher, sie war ihren Klassenkameraden um einiges voraus. Vielleicht hätte es das üben gar nicht gebraucht, aber Violet tat es gern. Also suchte sie sich einen Trank gegen starken Juckreiz heraus, den sie noch nicht gemacht hatte. Die Rezeptur war nicht sonderlich kompliziert, ihr schien es heikler ständig die hohe Temperatur beizubehalten. Die meisten Tränke konnten gemütlich vor sich hin köcheln. Dieser hier jedoch verlangte, dass er permanent sprudelnd gekocht wurde. Da waren Brandblasen ja vorprogrammiert.
Sie holte sich einen sauberen Kessel und setzte Wasser an bis es kochte. Dann folgte sie dem Rezept wie folgt: drei Mal Flubberwurmextrakt, aufkochen und unter stetigen Rühren Pfefferminz und Rattengalle hinzugeben. Heiß kochend ein Doxyei und fünf mal zerriebener Stoßzahn eines Erumpents. Am Ende sollte eine Türkisfärbung entstehen. Alles eine halbe Stunde weiter rühren und kochen.
Wie Violet befürchtet hatte war das Rezept nicht das Problem, sondern die Temperatur. Der sprudelnde Trank machte ständig Anstalten ihr überzukochen oder dass heiße, brennende Tropfen ihr auf die Haut spritzen. Immer wenn sie sich verbrannte fluchte sie lautstark. Manchmal fragte sie sich wie ihr Vater das hinbekam ohne ständig unflätige Worte durch den Raum zu brüllen – so wie sie es meistens tat.
Als der Trank fertig war hatte er die im Buch beschriebene Färbung und den Geruch von faulen Eiern, der angeblich typisch war. Violet war sich ziemlich sicher, dass man das nur mit einer Klammer auf der Nase herunter bekam.
Ihre Mutter begutachtete den Trank anschließend ausführlich. Sie war eine nicht so herausragende Alchemistin wie ihr Vater, aber wer konnte das schon von sich behaupten? Für einen kritischen Blick reichte es aber allemal.
„Beim nächsten Mal ewiger Fluchen, würde ich sagen.“, antwortete Narzissa ihr.
„Das Zeug war scheißeheiß!“, verteidigte sich Violet.
Ihr Vater hätte vermutlich was gesagt in der Art wie: „Könnte man Emotionen destillieren, dann könntest du eine Brauerei aufmachen.“
Im Augenblick wäre ihr das sogar ganz lieb gewesen, dann hätte sie wenigstens gewusst wo sie mit all ihren Gefühlen hin soll. Davon abgesehen wären sie wenigstens für etwas gut, außer sie nur laufend zu verwirren.
„Kommt Dad zu Weihnachten?“, fragte Violet unvermittelt.
„Das wird er wohl.“, antwortete Narzissa. „Bist du noch böse auf ihn?“
„Ich weiß nicht.“, sagte Violet und zuckte mit den Schultern.
Das kam der Wahrheit tatsächlich am Nächsten. Irgendwie fühlte sie, dass sie ihn vermisste und der anderen fand sie das was passiert war so unaussprechlich böse, dass sie kaum Worte dafür fand. Selbst wenn ihr Vater nur gehorcht hatte, machte das etwas mit ihr, dass sie nicht beschreiben konnte. Seit sie wieder Zuhause war fühlte sie sich wieder ruhiger. Ihre Wut kochte nicht mehr permanent über, dafür fühlte sie sich verloren.
Violet dachte darüber nach was wohl passieren würde, wenn sie nach Hogwarts zurückkehrte. Wer würde sie schon wiederhaben wollen nach dem, was sie getan hatte?
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Weihnachten kam schneller als gedacht. Ihre Mutter richtete das Haus entsprechend her mit einem Weihnachtsbaum und allem. Sie blieben meist unter sich. Ihre Eltern hatten sonst immer Onkel Lucius eingeladen, doch der fehlte dieses Jahr. Die Lücke, die er hinterließ fiel jedem auf. Ihre Eltern versuchten sich an Heiligabend nichts anmerken zu lassen, doch Violet spürte die angespannte Stimmung daheim.
Ihre Eltern schenkten ihr bei der Bescherung ein dickes Buch. Es war kein Fachbuch, sondern ein Roman; „Edward Corby und der verlorene Wunsch“. Darin ging es um einen Magier im London des 19. Jahrhunderts, der allerlei Abenteuer bestand. In diesem Teil der Serie musste er sich jedoch seinen eigenen Dämonen stellen.
Violet musste zugeben, dass sie die Bücher sehr mochte, weshalb sie sich den ganzen Abend gleich darin vergrub. Sie bekam nicht mit worüber ihre Eltern leise sprachen. Das war vielleicht auch besser so. Außerdem wollte sie wissen, ob Edward endlich etwas mit seiner Assistentin anfing. Die beiden fobbten sich seit drei Büchern und Edward bekam einfach nicht mit, dass sie auf ihn stand. Violet war vielleicht erst elf, aber das war doch so offensichtlich!
Als sie später ins Bett ging nahm sie das Buch mit, um unter der Decke weiter zu lesen. Für diesen Abend war sie zumindest eine glückliche Elfjährige, die keine Zeile in ihrem Lieblingsbuch verpassen wollte. Die Welt der Erwachsenen war ihr völlig egal geworden. Das war Magie, die nur Schriftsteller zustande brachten.
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Severus saß mit Narzissa auf der Couch, bei einem guten Glas Wein. Ihre Tochter war bereits in ihrem Zimmer verschwunden.
„Traust du Misses Cordworth nicht etwas zu sehr?“, fragte Narzissa ohne Umschweife.
„Sie hat mir immer den Rücken frei gehalten und mich immer unterstützt; vor den Todessern, aber auch gegenüber Voldemort. Ich vertraue ihr, weil ich weiß, dass ich es kann.“, sagte Severus.
Er und Amelia hatten über die Jahre ein Verhältnis aufgebaut auf das Severus sich verlassen konnte. Er spürte wie die Eifersucht aus der Stimme seiner Frau sprach. Natürlich war sie eifersüchtig! Wobei er vermutete, dass das weniger an ihm oder seiner Kollegin lag.
„Ich wusste nichts von Lucius' Verhältnis mit ihr.“, fügte Severus prompt hinzu.
„Nicht?“, fragte Narzissa ungläubig. Dann atmete sie tief als würde sie etwas bedauern. „Trotz allem, was geschehen ist hat ein Teil von mir ihn immer noch geliebt. Die Vorstellung, dass er … nun, sagen wir, es hat mich überrascht.“
Severus verstand durchaus, dass es sie schmerzte. Trotzdem hatten sie das eigentlich bereits vor 10 Jahren abgehakt. Lucius' Tod hatte Narzissa härter getroffen als sie nach außen durchblicken ließ. Diese unterschwellige Eifersucht gehörte da wohl dazu, ebenso dass sie ihrem Ex nicht einmal einen Neuanfang gönnte, wo sie diesen doch selbst herbeigeführt hatte indem sie ihn verließ.
„Er hatte so einige Geheimnisse.“, sagte Severus. „Aber ich sehe es ihm nach und das solltest du auch.“
„Es geht mir nicht darum mit wem er in den letzten Jahren alles sein Bett geteilt hat!“, entgegnete Narzissa. „Ich dachte nur, dass ich ihn kenne. Genau deshalb bin ich ja fortgegangen, weil wir uns beide nichts mehr zu sagen hatten nach Dracos Tod. Statt mit mir darüber zu reden vergräbt er sich in seinem Gram. Das ist aber auch irgendwie typisch für ihn!“
„Er hat seinen Weg gewählt.“, sagte Severus.
„Und du willst ihm folgen! Aufgrund von Aussagen seiner Geliebten?!“
„Deine Eifersucht ist völlig unberechtigt.“, antwortete Severus. „Nein, es geht nicht um Lucius oder Amelia. Es geht darum, dass der Dunkle Lord mich herausgefordert hat. Er wollte sehen wie weit er gehen kann, wie sehr er mich demütigen kann. Ich habe die letzten Jahre alles dafür getan, um es nicht so weit kommen zu lassen, doch jetzt hat Voldemort die Rote Linie überschritten. Ich kann das nicht unwidersprochen lassen.“
„Der Dunkle Lord ist nicht irgendein Todesser ...“, begann Narzissa.
„Und genau deshalb brauchen wir jede Hilfe, die wir kriegen können.“, antwortete Severus.
„Und was dann? Hast du mal darüber nachgedacht, was passiert, wenn du ihn tatsächlich tötest?“, fragte Narzissa. „Falls du scheiterst ist diese Frage ja ohnehin unerheblich.“
„Rein rechtlich gesehen kann nur derjenige den Titel eines Dunklen Lord an sich nehmen, der ihn in einem Kampf besiegt. Ja, mir ist klar, dass ich dann an seine Stelle trete.“, antwortete Severus. „Mir gefällt der Gedanke nicht. Ich strebe es nicht an, doch er lässt mir keine andere Wahl. Ich wollte, wir hätten bereits vor zwölf Jahren Erfolg gehabt, doch wenn es tatsächlich die Chance gibt all das Unrecht wieder gut zu machen, dann werde ich sie ergreifen.“
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte Narzissa und stellte ihr Glas auf den Couchtisch vor sich. „Du kannst dich nicht öffentlich gegen die Todesser wenden.“
„Nein, das kann ich nicht, aber sie werden mir gehorchen, auch wenn es ihnen missfällt, was ich tue. Einige werden sich gegen mich wenden, aber das wird nicht anders sein als jetzt. Zur Not werde ich sie töten.“
Severus wusste leider, dass dem so sein würde. Voldemort war nicht nur schlicht ein Mann, sondern ein ganzes System. Als Dunkler Lord an seine Stelle zu treten gäbe ihm die einmalige Gelegenheit dieses System abzuschaffen. Dafür würde Severus einige Todesser umbringen müssen, aber was war daran anders als die Situation, die sie jetzt hatten? Hogwarts war immer wieder den gierigen Fingern machthungriger Todesser ausgeliefert und er sorgte seit Jahren dafür, dass ihre Leichen gut sichtbar für alle eine Botschaft hinterließen.
„Ich hoffe nur, du weißt, was du da tust.“, sagte Narzissa.
Das hoffte er auch.