Im einen Moment dröhnt das Zürnen der Götter, lässt die Luft vibrieren und die Erde erzittern. Dann höre ich das leise ‚Puff‘, mit dem Miss Fortune sich aus der Situation verdrückt. Das leise Geräusch ist viel lauter, als es sein sollte. Es ertränkt alle anderen Geräusche, als wären die Götter gar nicht da, die heranwalzen, um einem gewissen Grauwolf den Pelz über die Ohren zu ziehen.
„Nein!“, heule ich. „Komm zurück!“ Wie kann Miss Fortune mich so im Stich lassen? Ich presse die Augen fest zusammen. Ob eine Gottesstrafe weniger wehtut, wenn man sie nicht kommen sieht? Ich winsele ängstlich. Götter sind kreativ! Ungefähr so kreativ wie Lyssa, die gerade fröhlich Hänge mit riesigen Steinkugeln und solchen Mist malt.
„Ich kann dir helfen“, wispert mir jemand ins Ohr. „Du musst nur zustimmen, drei Kleinigkeiten für mich zu erledigen …“
Moment mal. Den Unterton kenne ich doch! Ich öffne die Augen. „Miss Fortune?!“
Sie ist noch hier? Zuerst sehe ich den grinsenden Dämon, auf dessen Gesicht sich langsam Enttäuschung breitmacht, weil ich nicht auf das großzügige Hilfsangebot eingehe. Denn mir wird klar, dass hier gar nicht da ist, wo ich dachte.
Die grünen Hügel sind fort, und auch die Götterhorde. Stattdessen stehe ich in einer Höhle. Schwarz gefärbte Tropfsteine hängen von der Decke. Die dunklen Wände werden flackernd erhellt von zuckenden Flammen, deren oranger Lichtschein aus verschiedenen gewundenen Tunneln fällt, die von dieser Höhle abgehen.
„Wo sind wir?!“
Miss Fortune streckt sich, nachdem sie sich eben zu meinem Ohr herabgebeugt hatte. Zum ersten Mal sehe ich sie ohne rosa Wolken. „Wir sind natürlich in meiner Heimat, Grauwolf. Der Hölle.“
„Bin ich tot?“
„Soll ich dir hier raus helfen?“
„Hör mal, ich weiß, ich bin nicht der Hellste, aber auf deine Tricks falle ich wirklich kein zweites Mal rein!“
„Schade.“ Miss Fortune zieht die ausgestreckte Hand wieder zurück. Ihre langen Nägel sehen wirklich gruselig aus!
„Ja, das muss ich jetzt ändern.“ Miss Fortune betrachtet ihre Nägel und seufzt bedauernd. „Also gut, die Rettung stell ich dir nicht in Rechnung. Du hast recht, das war meine Schuld. Aber glaub nicht, dass ich dir die dritte Aufgabe erlasse! Damit beeilst du dich besser!“
Miss Fortune droht mit dem mahnenden Finger und – pufft!
„Hey!“, brülle ich in den leeren Raum. „Du hast mir nicht gesagt, was ich holen soll!“
Keine Antwort.
„Miss Fortune? Hallo?“
Leider funktioniert es nicht, der Dämon taucht nicht wieder auf. Wie soll ich denn jetzt wissen, was ich holen muss?
Na gut, es könnte der Becher voll Angst aus dem Buchtitel sein – das ist ja doch etwas auffällig. Aber ich fände es schon fairer, wenn der Dämon mir den Auftrag auch wirklich erteilt. Am Ende ist das ein Roter Hering!
Ich trotte einmal im Kreis durch die Höhle. Was soll ich tun? Einfach aufs Geratewohl lossuchen? Das gefällt mir nicht.
Schließlich wähle ich einen der Tunnel. Wenn das hier Miss Fortunes Heimat ist, kann ich sie hier ja vielleicht irgendwo finden.
Ich laufe in Richtung des Lichts. Es handelt sich wirklich um Feuer, das überall in einer riesigen Höhle brennt. Das Gewölbe ist groß genug, dass mehrere Drachen unter der Decke kreisen können. Die meisten sind schwarz, außerdem gibt es etwa menschengroße Fledermäuse. Der Boden der Höhle ist mit Lava bedeckt, darüber wölben sich steinerne Bögen und Podeste, ein dreidimensionales Labyrinth aus Felsenbrücken, schmalen Pfaden an der Höhlenwand und dazwischen größeren Felseninseln mit heißen Quellen. Sieht nicht sehr entspannt aus für die Menschen, die in diesen dampfenden Töpfen baden. Dabei mögen die doch so heiße Bäder eigentlich?
Ich habe jedenfalls ganz spontan das Interesse daran verloren, mich in diese Höhle zu begeben, und husche zurück in den kurzen Tunnel. Miss Fortune hatte nicht übertrieben! Ich bin in der Hölle.
Es pufft hinter mir. Ich wirbelte herum – und stutze.
„Ja?“, fragt ein schlanker Mann im Frack gedehnt. Er stützt sich auf einen Gehstock, rückt sich einen etwas zu hohen Zylinderhut zurecht und mustert mich durch ein Monokel, über einen großen, buschigen Schnurrbart hinweg.
„Häh?“
„Du hattest gerufen“, erläutert der Mann genervt. „Was wolltest du?“
Ich lege den Kopf schief. „Miss Fortune?“
„Ts, ts, ts. Es heißt jetzt Sir Prise, Grauwolf.“
Sie ist es!
„Er! Könntest du mich bitte korrekt gendern?“
„Ähm, Verzeihung.“ Ich stocke. „Moment, kannst du dich vielleicht mal entscheiden? Ich habe mich gerade an Miss Fortune gewöhnt!“
„Bitte unterdrücke mich nicht!“
„Ich … ich …“ Ich schnappe nach Luft. „Stell dich hier nicht unter den Schutz der Transgender! Du hast dich doch nur verkleidet, weil die Götter von Miss Fortune erfahren haben! Du versteckst dich!“
„Nein, ich habe sehr valide Gefühle!“
Ich starre den Dämon empört an. Dann knurre ich: „In Ordnung, Sir Prise. Du sagtest, dass ich den dritten Gegenstand holen muss.“
„Ja. Du hast eine Woche. Die Zeit läuft bereits.“
Ich schnappe nach Luft. „Eine Woche?!“
„Wieso bist du so … oh, hatte ich das noch nicht erwähnt?“
„Nein!“ Ich starre den Dämon an. Sie … er kann das doch nicht ernst meinen!
„Danke. Ich freue mich, dass du meine Entscheidung validierst.“
„Hör doch mal auf, meine Gedanken zu lesen! Oder lies den wichtigen Teil. Wie soll ich denn innerhalb einer Woche … du hast mir auch noch nicht gesagt, was ich holen soll.“
„Einen Becher voll Angst. Das hast du doch bereits erraten!“ Sir Prise rückt sein Monokel zurecht. „Du kriegst eine Woche Zeit, oder deine Seele ist verwirkt.“
„N-nicht mal mildernde Umstände, weil ich die Tränen und den Zorn …?“
„Mach dich nicht lächerlich!“ Sir Prise lacht affektiert auf. „Mildernde Umstände! In der Hölle!“
Noch immer lachend pufft er davon.
Ich bleibe alleine in der düsteren Höhle zurück. Von Weitem hallen leise Schreie herüber, ein Schauer streicht durch mein Fell.
Eine Woche Zeit! Und ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Wie füllt man einen Becher mit Angst? Reicht meine eigene Angs? Sicher nicht, oder Sir Prise wäre geblieben und hätte sich seine Zutat gleich abgeholt!
Ich lege die Ohren an. Also gut! Das letzte, was ich jetzt tun sollte, ist, Zeit damit zu verschwenden, mich zu ärgern! Ich sollte besser einen Fluchtweg aus der Hölle suchen. Und dann herausfinden, wie man Angst in Becher füllt.