Von der anderen Seite muss das witzig aussehen. Die mächtige Höllenpforte erzittert unter mehreren wilden Schlägen. Die hohen, dunklen Portale wölben sich nach außen. Dreck rieselt aus den vielen Reliefs, die in mehreren Ebenen angeordnet Szenen von Folterungen, Leid und Kummer zeigen.
Dann geben die Tore unter einem besonders heftigen Schlag nach. Durch die Öffnung purzelt ein Haufen gerüsteter Höllenlegionäre, ein dreiköpfiger Hund, haufenweise verdammte Seelen, ein verirrtes Quietscheentchen mit einer zarten Eisflocke auf dem Kopf – und ein Grauwolf.
Ich kann euch sagen, von meiner Seite war das alles andere als witzig. Nur gut, dass die Tore der Unterwelt dem Druck sämtlicher Legionäre dann doch nicht standgehalten haben. Ich habe allerdings keine Ahnung, wie ich das Gemetzel überhaupt überlebt habe. Jeder wollte ein Stück vom Grauwolf abhaben. Irgendwie konnte ich über mehrere Köpfe fliehen. Crowdsurfing ist, wie ich jetzt weiß, keine Sportart für mich.
Hier draußen steht den Seelen plötzlich die Freiheit offen. Damit bin ich für sie uninteressant. Die Gefangenen flüchten sofort in alle Richtungen. Die Legionäre fluchen und machen sich an die Verfolgung. Mit dem Bruch eines kleinen Riegels hat die ganze Welt auf einmal viel größere Probleme als mich, einen kleinen und schön unauffällig gefärbten Wolf.
Vor mir liegen weite, düstere Wiesen am Ufer eines breiten und träge dahinströmenden Flusses, dessen Wasser nahezu schwarz ist. Der Styx oder Acheron oder wie auch immer – ich habe gerade keine Energie für Geografie. Wichtig ist im Moment nur, dass es einer der Flüsse ist, die zur Unterwelt führen, und im Umkehrschluss auch zurück zur Welt der Lebenden.
Ich folge also dem Fluss, wobei ich die spärliche Vegetation am Ufer als Deckung nutze, bis ich weder jauchzende Seelen noch Höllenlegionäre am Rande des Nervenzusammenbruchs höre.
Je weiter ich die Unterwelt hinter mir lasse, desto wärmer wird die Luft. Zunächst ist es angenehm, irgendwann wird es jedoch etwas zu warm. Ich trage ja noch einen Pelzmantel. Erst mit dem Abend wird es etwas kühler. Das Land ist staubig und immer noch ziemlich öde, aber zu beiden Seiten des Flusses kommen jetzt dunkle Wälder in Sicht. Ich liebe Wälder!
Schließlich kann ich auf einem Hügel ein Gebäude ausmachen, eine Burg mit bräunlich-beigen Mauern. Natürlich, Menschen! Die sind ja echt überall!
Ich sollte ihnen aus dem Weg gehen. Doch vorher tauche ich noch einmal schnell die Zunge ins Wasser. Das tut gut, nach der Hitze, die die Luft erfüllt. Man schmeckt dem Wasser natürlich die Nähe zur menschlichen Siedlung an. Außer der Burg muss es noch Dörfer im Umkreis geben. Menschen haben ihren ganz eigenen Geruch, den die meisten Tiere inzwischen auf einem überfüllten Bazaar herausfiltern können.
Ich will mich schon vom Fluss entfernen – die Burg ist glücklicherweise auf der anderen Flussseite und ich brauche das Wasser offenbar auch nicht mehr als Wegweiser – als ich wütendes Gebrüll höre. Hunde bellen, ein Hornstoß lässt die Luft erzittern. Der Lärm kommt rasch näher und er klingt verdächtig nach einer Jagdgesellschaft.
Ich flitze ins Gebüsch, als ich den Duft eines Menschen wahrnehme. Auf der anderen Flussseite taucht eine Menschenfrau auf, die sich bis eben noch im Unterholz dort versteckt haben muss. Ihren gehetzten Atem kann ich bis hierher hören.
Moment. Sind die Jäger etwa hinter ihr her?!
Dann bewegt sich das Bündel, das sie an ihre Brust drückt, und gibt gedämpfte Laute von sich.
Ein Menschenjunges! Unwillkürlich spitze ich die Ohren. Das muss der Hundefluch sein, der sich mal wieder bemerkbar macht. Zum Glück wurde der wenigstens angehalten.
Die Menschenfrau kniet sich ein ganzes Stück stromaufwärts an den Fluss. Außer dem Bündel trägt sie auch einen Weidenkorb. Nun drückt sie ihre Stirn gegen die des Kindes. Einen Moment höre ich nur ihr leises Schluchzen, untermalt vom näherkommenden Lärm der Jäger. Dann legt sie ihr Kind in den Korb. Das weiße Tuch, das sie mit zitternden Händen über dem Kleinen faltet, bildet einen deutlichen Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Ich kann sehen, wie sie eine Art Anhänger auf der Brust des Kindes zurechtrückt.
Rufe erklingen. Zum Glück sind sie auf der anderen Flussseite.
Die Frau zuckt zusammen und sieht sich panisch um. Dann … Ich reiße die Augen auf. Sie setzt den Korb auf das Wasser und gibt ihm einen leichten Stups.
Aber da ist doch noch das Kind drin! Menschenkinder können nicht schwimmen!
Ich springe auf. Zweige, die sich in meinem Fell verfangen haben, brechen knacksend. Die Frau sieht auf und starrt mich direkt an. Ihre Augen blitzen in ihrem dunklen Gesicht auf. Zwei dünne Tränenlinien rinnen daraus bis zu ihrem Kinn und ihr Blick fleht mich wortlos um Hilfe an.
Ich brauche keine Zauberei, um diesen Blick zu verstehen, obwohl sie ein Mensch ist. Mein Herzschlag übertönt einen Moment alle anderen Geräusche.
Dann dreht sich die Frau plötzlich um und rennt stromaufwärts, mit lauten Schritten, unter denen Zweige krachen. Ich höre Rufe ihrer Verfolger, die diese Geräusche ebenfalls vernommen haben.
Der Korb treibt den Fluss hinunter. Ich lege die Ohren an, husche ins Unterholz und folge dem Lauf des Wassers, den Korb immer im Blick. Er springt auf den Wellen, geschaukelt von der rücksichtslosen Flut. Da, jetzt kommt er trudelnd an mein Ufer. Ich springe aus der Deckung, als ich schrille Schreie höre. Sie tönen über das Wasser, panisch und schmerzerfüllt. Dann erklingt eine raue Stimme.
„Wo ist das Kind?“, brüllt ein Mann so laut, dass ich es auch höre. „Wo ist es?“
Ich packe den Korbgriff mit den Zähnen und renne, so schnell mich meine Pfoten tragen.
Mit angelegten Ohren eile ich einen Hügel hinauf. Oben muss ich den Korb absetzen und erst einmal hechelnd durchatmen. Das Kind wimmert leise, nachdem es so durchgeschüttelt wurde. Hoffentlich wird es nicht lauter …
Ich lege mich flach neben das Weidenbündel und lausche auf Geräusche. Oh weh! Ich höre Schritte im Wald, diesmal auf meiner Flussseite. Die Verfolger durchkämmen den Wald auf beiden Seiten.
Ich nehme den Korb wieder auf und laufe etwas langsamer weiter. Ich brauche einen Plan …
Bald wittere ich wieder Rauch. Ein Menschendorf am Wald, umringt von Stümpfen und Viehweiden. Das ist es! Entschlossen husche ich an den Feldern vorbei zur vordersten Hütte. Leise setze ich den Korb ab und stupse das Menschenjunge an. Es starrt mich mit großen Augen an und macht seltsame Laute. Vorsichtig packe ich seine Decke und das Kind und rolle es so sanft wie möglich aus dem Korb. Trotzdem wimmert es lauter.
Im Inneren der Hütte erklingen Schritte und Rufe. Ich schnappe mir den Korb und flitze zurück in den Wald. Dann nehme ich allen Mut zusammen und renne quer über eine große Lichtung.
Volltreffer! Laute Rufe und Befehle machen mir klar, dass man mich entdeckt hat. Ich höre rennende Menschen und sogar vereinzelten Hufschlag, denn den Korb haben sie natürlich gesehen. Mit angelegten Ohren werde ich noch schneller.
Ich hätte das hier zu Ende denken sollen!
Reiter folgen mir auf der anderen Seite der Lichtung wieder in den Wald. Um den Korbgriff herum kann ich nicht so gut atmen. Ich halte trotzdem durch, so lange ich kann, dann spucke ich den Korb schließlich in hohem Bogen zur Seite ins Gebüsch.
Die Reiter verfolgen mich nicht länger, sondern stürzen sich in das Dornenmeer, um den Korb zu finden.
Puh! Das sollte sie eine Weile beschäftigen. Ich hoffe nur, dass die unverhofften Zieheltern etwas mit dem Menschenwelpen anfangen können. Jetzt hängt alles an ihnen …
Ich trotte unbehelligt in die Nacht hinein. Ob so eine gute Tat mir wohl in Zukunft Glück bringen wird? Beispielsweise dabei, einen Becher voll Angst zu kriegen – wofür mir nur noch sechs Tage bleiben!