Als ich aufwache, sehe ich ein neues Schiff in der Bucht dümpeln. Das ist das Problem mit Menschen. Da ist man sie gerade losgeworden, schon tauchen neue auf!
Diese Gruppe scheint sich immerhin nicht häuslich einrichten zu wollen. Sie scheint irgendwann in der Nacht angekommen und ein paar Stunden in der Bucht verbracht zu haben. Gerade landet ein einziges Ruderboot am Strand, aus dem mehrere Personen in ziemlich bunter Kleidung treten. Einer trägt einen roten Dreispitz und einen vielfach verzierten Mantel, Schnallenschuhe und sogar einen Gehstock. Wozu braucht man den? Auf einem Schiff geht man ja nicht, man segelt! Allerdings sehe ich dann, dass ihm ein Fuß fehlt. Dieser endet in einem dünneren Holzstück. Entweder, er ist halb Baum, oder er hat den Fuß mal im Kampf verloren und trägt eine Prothese.
Mehrere andere Männer mit Kopftüchern und gestreiften Hemden folgen ihrem Anführer an Land. Sie tragen eine kleine Holzkiste mit goldenen Beschlägen.
Kein Vergleich zu dem Lager, das die Menschen davor aufgeschlagen haben! Vielleicht haben sie vor, noch etwas mehr aufzubauen, doch das ist ja strenggenommen nicht mehr mein Problem. Vor allem werden sie nicht lange bleiben – ich sehe, dass auf dem Schiff bereits die Segel gespannt werden.
Nachdem ich die Gruppe eine Weile beobachtet habe, die einer merkwürdigen Zickzack-Route durch den Urwald folgt, nehme ich meinen Becher und trotte zum Ruderboot. Nachdem die Menschen ihre kleine Truhe nämlich vergraben haben, kommen sie zurück. Sie stutzen, als sie einen Wolf sehen, der, einen Holzbecher zwischen den Pfoten, neben dem Boot sitzt.
„Hallöchen!“
„Käpt’n … Hast du das auch gehört?“
„Der Wolf spricht!“
Ich lege den Kopf schief und stupse den Becher vor. „Habt ihr schon Angst?“
Erstaunlicherweise lacht die gesamte Gruppe auf. Sieben Mann, die sich köstlich amüsieren.
„Was denn?“
„Wölfchen …“ ‚Käpt’n‘, das ist der Mann mit dem Dreispitz, wischt sich ein Lachtränchen aus dem Augenwinkel, ehe sich dieses im dichten Bart verstecken kann. „Wir sind Piraten! Wir fürchten weder Tod noch Teufel – und sprechende Wölfe sind vielleicht ungewöhnlich, aber nicht so gruselig wie das, was wir auf dem Meer gesehen haben.“
„Oh.“ Ich sehe betreten auf den Becher. „Also habt ihr nicht mal ein bisschen Angst?“
Käpt’n geht vor mir in die Hocke und tätschelt meinen Kopf. „Tut mir leid. Können wir dir irgendwie anders helfen?“
„Öhm … wo fahrt ihr denn hin? Kann ich ein Stück mitsegeln?“ Auf diese ‚Schrecken aus der Tiefe‘ bin ich zwar nicht sehr erpicht, aber die könnten sicher ein wenig Angst auslösen. Irgendetwas wird bei dieser vernarbten Bande sicher schon herauströpfeln!
„Wo musst du denn hin?“
Es klappt wirklich! „Das ist sehr nett – ich war zuletzt in Europa, bei so einem Berg …“ Falls der Piratenplan klappt, will ich auch langsam nach Hause. Dort ist irgendwo nämlich meine gemütliche Wolfskuhle, die ich schon sehr vermisse. Dann hat diese Irrfahrt vielleicht endlich mal ein Ende.
Erstaunlicherweise können die Piraten etwas mit meinen wirren Beschreibungen anfangen und versprechen, mich in Richtung Heimat mitzunehmen. Also setze ich mit im Ruderboot rüber und lasse mich dann in einem Netz über die Seite an Deck ziehen.
„Jetzt fängt der Käpt’n schon an, Tiere einzusammeln“, kommentiert das ein Matrose.
„Die Streuner und Verlorenen, wie wir“, sagt ein anderer lachend.
Ich mag die Truppe! Nicht nur Käpt’n (oder ist ‚der‘ sein Vorname?) hat ein Holzbein, es gibt auch eine Vielzahl Hakenhände, Augenklappen und so, eine stolze Narbensammlung und – erstaunlich viel Musik!
Es geht rasend schnell über die Wellen und die Piraten spielen auf Akkordeon, Gitarren und ähnlichem. Sie singen, nicht gut, aber dafür mit umso mehr Spaß. Ich würde es so gerne einfach genießen und mit herumalbern – aber ich habe nur noch drei Tage Zeit und brauche ganz dringend Angst. Das Gegenteil von Musik also!
Auch als das Meer wilder wird, singen die Piraten einen Shanty nach dem anderen. Dann erhebt eine wirklich riesige Seeschlange ihren buntgeschuppten Kopf aus den Wellen und sperrt ein gewaltiges Maul auf, um uns anzuschreien. Das Schiff versenkt sie nur deshalb nicht, weil ein großer, vernarbter, weißer Wal im Kampf mit einem Riesenkraken seitlich in sie krachen und sie ablenken. Die drei Giganten umkreisen einander, fauchen und brüllen und knurren. Unser Schiff ist nicht mehr als eine Nussschale, die von den Wellen umhergeworfen wird, da von den Rückenstacheln der Seeschlange, hier von der Walfluke, dort von einem großen Tentakel angestoßen wird.
Ich renne über das bebende Deck, balanciere den Becher auf der Schnauze, doch alles, was ich sammele, ist etwas salzige Gischt. Es ist unfassbar – die Piraten hören immer noch nicht auf, zu singen.
Sie feuern mit Kanonenkugeln und Harpunen auf die Ungeheuer, was für diese kaum mehr als Mückenstiche sein kann. Dennoch erfasst mich eine verzweifelte Hoffnung.
Wenn die Piraten keine Angst haben, dann ja vielleicht die Monster! So einen Riesenkraken muss es ja schon erschrecken, wenn etwas dicht bei dem gelben Glubschauge einschlägt!
Ich hüpfe auf die Reling, um der Mannschaft nicht im Weg zu sein, und sprinte zum Bug, um näher an dem Kraken zu sein, auf den wir gerade zufahren. Plötzlich rutschen meine Pfoten auf dem feuchten Holz ab.
Das Schiff macht einen Satz zur Seite. Unter mir ist die Bordwand, kein Boden mehr. Ich zappele mit den Pfoten. Da umfasst mich ein starker Arm. Zum Glück denke ich daran, den Becher festzuhalten, als ich zurück an Deck gezogen werde.
Es ist Käpt’n. Der Pirat tätschelt mich. „Was machst du denn da? Komm, geh unter Deck, bis das hier vorbei ist!“ Ehe ich widersprechen kann, hat er mich auch schon eingesperrt. Also, er hat nicht abgeschlossen – aber die Klinke ist ein Drehknauf. Den kann ich nicht öffnen!
Irgendwann legt sich das Rumpeln draußen wieder. Dann taucht ein Matrose auf, der mich aus dem Zimmer holt. Die See liegt wieder ziemlich ruhig da, nur ein stetiger Wind treibt uns rasch dem Horizont nach und lässt die Wellen tanzen. Ich erhalte ein paar neue Verhaltensregeln und darf mich dann wieder der singenden Mannschaft anschließen.
Wehmütig betrachte ich den immer noch leeren Becher. Hier finde ich wohl doch keine Angst. Der Monsterkampf war für die Mannschaft nämlich eine noch kürzere Anekdote, als ich das hier beschrieben habe! Die sind da rausgesegelt, haben das Schiff repariert und bereits alles wieder vergessen. Die See wirkt ebenfalls ruhig und allzu lange kann die Reise gar nicht mehr dauern. Wenn alles vorbei ist, muss ich unbedingt nochmal zurückkommen!
Ich sehe zur steigenden Sonne und summe eines der Lieder mit etwas abgeändertem Text mit.
„Piratenmarv, Piratenmarv,
auch wenn ich nicht mehr auf die Reling darf,
so fliege ich über das Meer,
der Becher bleibt nicht lange leer!“*
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*nach Mister Hurley und die Pulveraffen – „Piratenbraut“