Friedliche Stille liegt über dem Berghang. Die Luft ist klar und auf eine angenehme Weise kühl. Von unten dringt der würzige Duft nach Tannenharz herauf.
Ein wunderschöner erster Tag in Freiheit! Nach einem Jahr, einem Monat und sieben Tagen bin ich diesen Druck endlich los. Es war aber auch ein Abenteuer. Ich habe eine Menge Leute getroffen (und irgendwie noch mehr verärgert), so viel gesehen und erlebt … Ich weiß gar nicht, wo ich jetzt anfangen soll. Ein paar Entschuldigungen sind wohl angebracht. Dann möchte ich einen langen Urlaub. Und ich habe eine echt tolle Liste an Büchern der Wikiothek, die ich noch lesen möchte! Jetzt muss ich mich nicht mehr um die Zeit sorgen und kann gemütlich mit allen plaudern – ein Traum! Was werden wir später über dieses Abenteuer lachen – der Wolf, der im Auftrag des Dämons drei merkwürdige Zutaten sammelt.
Es ist wirklich verdächtig still. Ich halte inne. Ein kühler Wind streicht durch mein Fell, scheint an mir zu zupfen, mir ins Ohr zu flüstern, was das Richtige ist.
Ich seufze – mein Atem wölkt leise in den Himmel. Dann drehe ich mich um. Das wäre jetzt ein toller Moment für dramatische Musik!
Was auch immer Sir Prise oder Miss Fortune oder Clive Hanger oder wie auch immer er sich nennen will für einen Zauber versucht hat – es kann nichts Gutes bedeuten! Er ist ein Dämon. Dämonen tun niemals etwas Gutes.
Da ich ihm geholfen habe, sollte ich wenigstens nachsehen, was das alles zu bedeuten hat. Es ist, wie man so schön sagt, meine Verantwortung. Insgeheim hoffe ich natürlich, dass der Dämon und seine merkwürdigen Stundengläser einfach verschwunden sein werden. Ich möchte nach Hause und mich nicht noch weiter mit Clive herumschlagen! Aber ich wollte stärker darauf achten, das Richtige zu tun. Auch wenn es heißt, direkt zurück in das Tal zu laufen.
Eine Böe voller Flocken weht mir ins Gesicht, als ich den Pass überquere. Ich blinzele, schließlich kann ich aber mehr erkennen.
Im hellen Sonnenschein sind die drei Sanduhren noch da. In der Mitte, gespeist aus ihren Blitzen, zuckt und züngelt eine irgendwie surreal aussehende Säule aus weißem, rotem und schwarzem Licht, die im Himmel verblasst, da sie weniger hell als der Sonnenschein ist. Ihr Fuß bohrt sich in das Eis. Die Eisdecke ist zwar intakt, wölbt sich in der Mitte des Sees aber sichtbar.
Von Sir Prise ist nichts zu sehen. Es scheint fast, als wäre er unter dem Eis. Denn durch die nahezu gläserne, blaue Schicht sehe ich etwas Großes, das sich dort bewegt.
Hat er sich irgendwie durch das Eis teleportiert? Oder ist das da unten etwas anderes? Noch während ich zu enträtseln versuche, was ich da sehe, rinnt das letzte Material durch die Sanduhren nach unten. Drei starke Blitze schneiden die Welt in Schwärze und glühendes Licht; die Eisdecke birst. Riesige Splitter aus Eis segeln durch die Luft und regnen zur Erde. Im Zentrum der Explosion springt etwas nach oben, ein schwarzer Leib. Das ledrig-schlagende Geräusch der Schwingen hallt wie Donner und erinnert mich an vergangene Kämpfe.
Ein Drache! Leicht geduckt kann ich nur im Eissplitterregen stehen und die dreiköpfige Bestie anstarren, die sich aus dem See in den Himmel schwingt. Ein schwarzer Körper, Krallen und Zähne wie Blut, weiße Akzente wie Schnee oder gefrorene Tränen. Ein mächtiger, dreistimmiger Schrei hallt über dem Tal – und ich erkenne die Stimme meines Auftraggebers. Clive, Miss Fortune und Sir Prise vermengen sich in einem mächtigen Gebrüll, das mir die Ohren klingeln lässt.
Ich werfe mich in den Schatten hinter einem grauen Felsen und ducke mich in den Schnee. Flocken werden vom Flügelschlag des Drachen aufgewirbelt. Dessen Schuppen sind an den langen Hälsen unterschiedlich gefärbt. Es gibt einen schwarzen Kopf in der Mitte, die beiden zu den Seiten sind rot und weiß. Ich erahne langsam ein Muster dieser ganzen Geschichte …
Die Hydra kreist unter der Sonne. Ihr Schatten flitzt über die Wellen und Hügel der Schneefelder. Ich strecke den Kopf vorsichtig aus der Deckung, passe einen guten Moment ab und husche hinter den nächsten Stein. Stück für Stück arbeite ich mich vor, bis schließlich offenes Schneefeld vor mir liegt. Ich sehe zum Himmel. Der Drache fliegt hoch über dem See. Vermutlich kann er mich nicht sehen. Von hier unten sieht er winzig aus!
Außerdem habe ich mich bereits entschieden, etwas Dummes zu tun.
Ich nehme meinen Mut zusammen und trotte auf die Schneefläche. Mein Blick ruht auf dem See. Wieder höre ich die geisterhaften Schreie längst verstorbener Wölfe. Vor meinem Blick zucken Schatten. Ich halte am Rand des Eises.
Es ist nur ein See. Das Eis ist in der Mitte zwar gebrochen, aber dadurch sehe ich auch, wie dick es ist. Mehrere breite Scherben haben sich in die Eisdecke gebohrt und sie hält das alles aus. Es ist sicher.
Schreie. Rutschiges, brechendes Eis unter meinen Pfoten. Beißend kalte Tropfen in meinem Fell. Ein Rudel in Panik, Rufe, Wimmern. Das Blut rauscht in meinen Ohren, während ich renne, in dem Wissen, dass ich nur so mein Leben retten kann.
Dass ich nicht helfen kann.
Ich blinzele. Der See liegt ruhig vor mir, abgesehen von einigen scharfkantigen Splittern. Wieder sehe ich hinauf zu dem Drachen, aus dessen Mäulern nun Feuer – oder etwas Ähnliches – in drei Farben schlägt.
Es gibt nur einen Weg, diese Bestie zu stoppen. Ich lege die Ohren nach hinten und renne los.
Meine Pfoten trommeln dumpf auf dem Eis. Mein Atem geht rhythmisch und kraftvoll, passt sich dem Trommeln an. Sonst ist nur das leise Knacken des Eises zu hören, das sich bewegt. Hin und wieder blitzen Schreie auf, die verschwinden, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf sie richten will, wie ein Irrlicht, das man nicht direkt ansehen kann, nur aus dem Augenwinkel.
Die Zeit scheint sich ewig zu strecken, während ich renne, und dann ist es wiederum schnell vorbei. Ich komme vor dem schwarzen Stundenglas an, dass dem Ufer an meiner Seite am nächsten war. Entschlossen werfe ich mich dagegen. Doch das Glas rührt sich kein Stück. Dann kratze ich mit den Pfoten über das Glas, das sich jedoch nicht ansatzweise zerkratzen lässt. Es fühlt sich härter und kälter an als das Eis!
Was mache ich denn jetzt? Ich beiße in eine der eher schlanken Holzsäulen der Umrandung und ziehe. Dann richte ich mich auf die Vorderbeine und schiebe die Hinterbeine am Glas hoch, in dem Versuch, das Glas irgendwie umzuwerfen.
Es ist riesig und massiv. Im Inneren ist kein Rauch mehr, sondern samtig-schwarzer Sand, als wäre etwas verbraucht worden und nur diese Körner geblieben.
Ich springe verzweifelt am Glas hoch. Irgendwie muss man da doch hinein kommen! Jetzt war ich schon so mutig, dann muss das doch auch etwas bewirken!
Plötzlich fällt ein Schatten über mich. Ein großer Schatten. Dann spüre ich, wie das Eis bebt.
„Was soll das hier werden?“, fragt der Drache mit dieser Stimme, die gleichzeitig nach allen Versionen von Clive Hanger klingt.
Ich höre ein Pfeifen und will mich umdrehen. Dann trifft mich der lange Schwanz des Drachen in die Seite und schleudert mich in die Luft. Ich fliege über das Eis, schlage auf, kullere und rutsche weiter. Uff – er hat mich über das große Loch in der Mitte geworfen. Ich komme mir vor wie ein Golfball, aber wenigstens habe ich das tödlich kalte, schwarze Loch verpasst.
Und noch etwas sehe ich, eine Macke im schwarzen Glas, aus der dunkler Sand auf das Eis rinnt. Der mittlere Drachenkopf zuckt ein wenig, er scheint zu schrumpfen.
Also bewirkt es doch etwas!
Die brennenden Kratzer ignorierend kämpfe ich mich auf die Pfoten. Mit zwei Sprüngen ist der Drache bei mir. Ein paar Risse ziehen sich durch das Eis, aus denen dunkles Wasser schwappt, das auf dem Eis sofort unsichtbar wird. Die großen Pranken schlagen nach mir. Ich weiche zur einen Seite aus, dann zur anderen. Zwei lange Risse brechen links und rechts von mir auf. Dann schlägt der Drache auf das Ende des schmalen Rechtecks und meine Seite katapultiert mich nach oben. Mit zappelnden Pfoten fliege ich über den Drachen, diesmal auf das schwarze Loch in der Mitte zu. Mich rettet Clives Flügel, den der Drache aufspannt. So kann ich über die Flughäute kullern und komme auf dem Eis auf.
„Verschwinde, Wolf!“, knurrt der Drache grollend. Sein genervter Ton macht mir klar, dass er mich absichtlich verfehlt hat. Dafür taten die Schläge aber ganz schön weh!
Ich sehe mich um und wäge ein letztes Mal ab, was für ein Wolf ich sein möchte. Ich kann zum Ufer rennen und gehen. Oder …
Ich laufe auf das nächste Stundenglas zu. Auch dieses ist mit Sand gefüllt, rotem diesmal.
„Es reicht!“, brüllt der Drache. Wieder schlägt er mit dem Schwanz zu. Ich halte vor dem Glas und sehe dem Angriff entgegen, der mich in die Luft reißt.
Clive schlägt mich mitten in das rote Glas, das unter der Wucht des Aufpralls zerbirst. Das Klirren schallt in meinen Ohren, vervielfältigt sich, füllt meine Welt, die plötzlich nur noch ein endloser, roter Raum ohne Wände oder Decken oder Boden ist. Eine Leere, in der ich umringt von dunklen Glasscherben hänge, die sich auflösende Form des großen Stundenglases.
Ich spüre keine Schmerzen von dem doppelten Schlag, nicht mal etwas Druck. Keine Kälte, nichts.
So endet es also? Warum habe ich bloß das Richtige tun müssen? Es war närrisch, ich hatte nie eine Chance. Das war bloß Irrsinn aus Prinzip. Ich verfluche meinen Sturkopf, der mich zu diesem Ende geführt hat.
Ich hätte mir gar nicht viel gewünscht, bloß so drei Kapitel mehr …