Die Welt ist glutrot und dunkel, ein endloser Raum ewigen Zwielichts. Die einzigen Ankerpunkte für den Blick bilden die Scherben, nahezu unsichtbar, mit schwarzen Kanten. Schwerelos hänge ich im Nichts. Gegenüber dreht sich ein gebogenes Scherbenstück langsam in meine Richtung, sodass ich mein Spiegelbild sehen kann.
Doch etwas fehlt. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Schatten an meinem Rücken. Ich fühle eine Art Ziehen, als der Rauch aus meinem Fell steigt, zuerst als Wolke, dann in zwei, nein, vier paarweise geordneten Strängen, die ausfasern. Mit gedrehtem Kopf verfolge ich, wie sich der Schatten von mir löst, sich verdickt und verdunkelt, bis ich nicht länger auf eine graue Wolke, sondern auf einen Wolf sehe.
Ein etwas kleinerer Grauwolf mit vier Narben auf dem Rücken. Das bin ich! Allerdings fallen mir sofort ein paar Unterschiede auf: Er hat noch etwas mehr braunes Fell. Richtig braun gemustert war ich nie, aber inzwischen bin ich doch etwas grauer geworden. Unter halb geschlossenen Lidern schimmert ein gelber Blick.
Unfassbar. Clive hat meine Vergangenheit aus mir herausgeprügelt!
Als ich wieder nach vorne sehe, ist der jüngere Marvin noch immer nicht im Spiegelbild aufgetaucht. Moment mal - meine Augen im Spiegel sind nicht länger gelb, sondern von einem dunkleren Grün. Das ist, wenn ich mir das komplizierte Wort richtig gemerkt habe, die exakte Komplementärfarbe zum Rot um mich herum, als wollte sich etwas von dieser fremdartigen Welt abgrenzen.
Ich bewege mich immer noch, wenn auch langsam. An den Scherben merke ich, dass ich durch die Glocke des Glases reise. Offenbar wirkt der Schwung des Schlages immer noch nach. Oder ist es irgendeine Magie des Glases, die die Zeit für mich verlangsamt?
Oh-oh. Bin ich etwa gar nicht tot? Das würde nämlich bedeuten, dass mir irgendwann ganz schön viel wehtun wird …
Ich nähere mich den hinteren Scherben. Was wird dann passieren? Treibe ich einfach für immer durch das Nichts aus Rot? Oder kehre ich zurück in die … nun, nicht echte, aber echtere Welt?
Nervös ziehe ich die Pfoten ein. Mein Schatten-Ich hat die geborstene Rückwand beinahe erreicht.
Dann sehe ich eine Bewegung vor mir. Ich richte den Blick irritiert auf mein Spiegelbild. Dieses legt ruckartig den Kopf schief und zwinkert mir zu.
„Wa…?“
Schlagartig kehrt das stechende Licht zurück, der kalte Wind, der Lärm und der Schmerz. Ich wirbele durch kühle Luft, die in meinen Ohren braust. Ich überschlage mich mehrfach, erst in der Luft, dann im Schnee.
Schließlich kann ich mich aber aufsetzen und den Kopf über den Schnee schieben. So schlimm sind die Schmerzen gar nicht – nur ein paar Kratzer und Prellungen.
Neben mir hebt ein anderer Wolf seinen Kopf aus dem Schnee. Und dann noch einer.
„Marvin?“, frage ich.
„Marvin?“, fragt einer zurück.
„Gut, so kommen wir schon mal nicht weiter!“ Ich stehe auf und schüttele mir den Schnee aus dem Fell. Die beiden neuen Wölfe machen es mir nach. Einer ist etwas kleiner als ich und weniger grau. Mein jüngeres Ich, mit gelben Augen. Der andere könnte mein Spiegelbild sein, bis auf die grünen Augen.
„Also gut! Ich bleibe Marvin. Du bist Kleiner und du bist Grünauge.“
„Wir sind aber alle Marvin“, protestiert der Grünäugige.
„Und außerdem habt ihr beide grüne Augen!“, protestiert der Kleine.
„Was? Nein! Meine Augen sind gelb, waren sie schon immer!“
Lautes Wutgeheul unterbricht uns. Stimmt ja, da war noch so eine dreiköpfige Kleinigkeit … Der Drache kümmert sich allerdings nicht um uns. Verzweifelt versucht er, den Sand mit den Pranken zurück in das kaputte Stundenglas zu schaufeln. Der rote Kopf ist jetzt lächerlich klein und scheint immerhin ein wenig zu wachsen, je mehr Sand sich auf der Bodenplatte zwischen den Scherben befindet.
Clive hat das Stundenglas zerstört und offenbar einigen Ärger deswegen. Mein Trick hat also wirklich etwas gebracht!
„Leuchtend grüne Augen, alle beide!“, sagt der kleine Marvin.
Ich lege ein Ohr an. Der andere große Wolf legt zeitgleich das andere Ohr um. Der Kleine kichert. „Ihr seid Spiegelbilder!“
„Dann eben Jung-Marvin und Spiegel-Marvin“, beende ich die Diskussion. „Andere Frage: Was machen wir mit dem Drachen?“
„Wegrennen, solange er noch beschäftigt ist?“, schlägt der Spiegelwolf vor. „Was nicht mehr lange ist!“
Tatsächlich ist Clive dabei, von der Sanduhr zurückzutreten.
„Wir müssen ihn bekämpfen!“, sage ich entschlossen. „Wir haben ihn auch freigesetzt.“
„Du, meinst du wohl!“, ruft Jung-Marvin. „Ich habe genug Drachen für ein ganzes Wolfsleben bekämpft! Ich will nicht mehr kämpfen!“
Jetzt weiß ich auch genau, aus welcher Zeit die jüngere Version von mir kommt. Das war direkt nach meinem Eintritt in die Schimmerwelt, da hatte ich die Nase voll von allem.
„Wir müssen aber etwas tun, oder viele andere Wesen werden leiden. Der Dämon wird sich nicht damit zufrieden geben, hier herumzufliegen. Kommt schon … wir müssen die anderen beiden Gläser zerstören!“
Entschlossen trete ich vor. Erstaunlicherweise folgen die beiden anderen Wölfe mir. Obwohl, eigentlich sollte es mich nicht überraschen. Sie sind ich. Und wenn es drauf ankommt, entscheide ich mich immer gleich.
„Wieso lebst du noch?“, fragt Clive grollend, als er mich auf dem Hang bemerkt. Mit einem weiten Satz ist er bei mir. „Was hast du getan? Ich gab dir die Chance, zu gehen. Du hast deine Schuld abgetragen.“
Ich strecke die Brust vor. „Ich werde dich aufhalten!“
Donnernd lacht der Drache, dass es sicher weit über das Tal hallt. „Mich aufhalten? Du kleiner Grauwolf?“
Das ist mir ja selbst klar! Ich blecke kampfbereit die Zähne.
„Du hattest deine Chance. Ich hätte dir Gnade gezeigt, da du so nützlich warst. Aber du wählst ... deinen Tod.“ Der Drache sperrt die Mäuler auf. Das rote ist etwas kleiner als der Rest. Erschrocken versuche ich mit meinen neuen Doppelgängern, zur Seite zu fliehen, doch ein Prankenhieb wirft uns an den Fuß einer kleinen Klippe, wo wir nicht mehr schnell genug aufspringen können.
Feuer schlägt aus dem roten Rachen, ein eisiger Strahl aus dem weißen und dunkle Masse aus dem letzten. Ich habe keine Zweifel, dass alle drei gleich tödlich sind – nun, abgesehen davon, dass der Feuerstrahl etwas kleiner ist. Aber sie umfassen so ein breites Gebiet, dass ich nicht fliehen kann. Ich schließe die Augen, kauere mich zusammen und verfluche mein neu entdecktes Helden-Gen. Wenn wir doch bloß dem Vorschlag des Spiegelwolfs folgen und abhauen könnten!
Lautes Brausen füllt die Luft. Dann verstummt es. Ich blinzele verwirrt. Der Jungwolf kauert neben mir auf der Erde, die Pfoten über dem Kopf zusammengelegt. Der Spiegelwolf hebt den Kopf aus dem Schnee.
Die Drachen runzeln die geschuppten Brauen, dann speien sie erneut.
Diesmal sehe ich, wie Feuer, Schatten und Eis über eine unsichtbare Barriere spülen, die uns umgibt, eine leicht ovale Blase. Als das Feuer versiegt, lecke ich testweise über die Barriere. Huch! Das ist Plot Armor. Aber wo kommt das denn her, ich habe keine Vorräte an Geschichtenmagie mehr!
„Was bei allen Unterwelten …?“, setzt der Dämonendrache an, als wir auch nach dem zweiten tödlichen Dreierstrahl noch stehen.
Da springt etwas über unsere Köpfe und landet in aufstiebendem Schnee. Ein Tiger mit rotem Rückenfell und weißem Bauch, der sich brüllend vor uns aufbaut. Er ist riesig, sicher zwei Meter Schulterhöhe, und hat schwarze Hörner auf der Stirn.
Mein jüngeres Ich krabbelt erschrocken rückwärts, doch ich stelle erleichtert die Ohren auf.
„Ifrit?! Was machst du hier?“
Für einen Moment sieht der andere Dämon grinsend nach hinten. „Dir den Arsch retten!“ Mit tiefem Grollen wendet sie sich wieder dem Drachen zu. „Deswegen sind wir alle gekommen. Verzieh dich, Mistkerl!“
‚Wir alle‘? Ich drehe den Kopf. Und dann – ja, dann tauchen Gestalten an den Rändern des Tales auf. Ich traue meinen Augen kaum. Da sind Dorfbewohner mit zitternden Mistgabeln, Piraten, eine Horde Affen, Wichtel und Zwerge, ein Wolpertinger mit einem bunt bemalten Geweih und eine Lichtkugel, eine Meerjungfrau in einem großen Aquarium, mehrere Götter, vier Vampire unter einem großen Sonnenschirm und direkt daneben Pumpkin, Siebenschläger, Hildtraut, Bohnenstange, Angela und Mortimer van Helsing! Ich sehe den Kürbisreiter und Tarzan und Yeti, Gully und sogar Hotdog mit dem Basilisken, der inzwischen ein Teenager ist. Die Nymphe, die mich nach Griechenland gebracht hatte, und ihre Ziegenbock-Freunde! Den Tarnkappenzwergmörder! Den Gott der kreativen Beleidigungen und so viele mehr.
Ich bin eine Weile ziemlich sicher, dass Lyssa die plötzliche Verstärkung gemalt hat. Doch sie sind echt. Wo kommen nur all diese Wesen her? Schließlich sehe ich die Heerführerin auf einem Hügel, eine Flagge in der Hand und auf einem gesattelten, weißen Kelpie.
„Ceridwen!“
Sie lächelt mir zu. „Na, Grauwolf? Bisschen Hilfe gefällig?“
„Wie? Was? Woher?“
„Längere Geschichte. Aber als die Wikiothek entschlüsselt hat, wofür man die drei Zutaten braucht, wussten wir, dass wir etwas unternehmen mussten.“ Die Geisterfrau winkt ab. „Egal, klären wir nach dem Kampf.“
Clive-Drache knurrt ungehalten, als er sich plötzlich so vielen Wesen gegenübersieht. Unser freudiges Wiedersehen hat er fassungslos beobachtet.
„Nein!“, ruft er jetzt. „Ich habe mein Ziel endlich erreicht – das werdet ihr mir nicht nehmen! Ich kann euch alle vernichten, und die Welt dazu!“
„Und das ist dein Plan.“ Ifrit rollt mit den Tigeraugen. „Wie vorhersehbar und langweilig!“
„Ich werde der Herr des Universums …“
„Ööödeee!“
Finster sieht Clive Ifrit an. „Also gut, kein Monolog. Ich werde euch einfach töten!“
Er sperrt alle drei Mäuler auf.
„Aufteilen!“, befiehlt Ceridwen ihrer Armee. Magische Schutzschilde blitzen hastig auf, als der Drache sein dreifarbiges Feuer speit.
Im nächsten Moment herrscht Chaos.