Ich hetze dem Schatten nach, der durch das Laub der hohen Baumkronen jagt. Er ist verflixt schnell, und auf dem Boden muss ich Luftwurzeln, Lianen, Sträuchern, Steinen, Gräben, Hügeln, Ameisenhügeln, Gürteltieren, gruseligen Pfützen, noch einem Ameisenhaufen und Baumstämmen ausweichen. Der Dschungel sieht aus wie bei Hempels unter’m Sofa. Räumt hier denn nie jemand auf?!
Dass ich überhaupt hinter dem Becherdieb herkomme, liegt allein an eisernem Willen und Wut. Ich bin nicht bereit, den Becher so schnell wieder zu verlieren. Zum ersten Mal auf dieser merkwürdigen Quest lag ich gut in der Zeit. Ich hatte den Becher und noch fast vier volle Tage Zeit, um ihn mit erstklassiger Angst zu füllen. Dass ich meine eigene Angst nicht nehmen kann, war ein Dämpfer, aber auch nur ein kleiner Rückschritt.
Jedenfalls bis dieses Vieh hereingeschwungen kam. Inzwischen habe ich ab und zu schwarzweißes Fell aufblitzen sehen, wenn der Dieb durch einen Sonnenstrahl schwingt. Es ist ein Affe! So ein Lemurenvieh. Meine Tierfreundlichkeit hat in den letzten Minuten dramatisch nachgelassen. Ich hätte gar nichts mehr gegen einen Eintopf mit Affenhänden! Denn das ist mein Becher, den er da in seinen Drecksfingern hat. Das ist doch unfair! Ist denn nicht schon genug schiefgelaufen? (Also jetzt auch an Dingen, die ich nicht verschuldet habe.)
Tja, apropos schieflaufen … Meine Pfote verfängt sich an einer Wurzel. Ich fliege ein Stück in die Luft und kann mir den Boden aus einer interessanten Höhe ansehen, während ich mich scheinbar langsam überschlage. Die Welt scheint sich einen Moment zu verlangsamen. Lyssa kräht ‚The final Countdown‘ in mein Ohr. Ich wusste nicht mal, dass sie reden kann! Aber offenbar nur in Ohrwürmern. Woher ich das weiß, könnte ich nicht sagen. Da Lyssa schließlich ein Teil von mir ist, weiß ich es vermutlich eben daher. Sie kann schließlich auch mit meinem Unterbewusstsein reden, aber das Lied ist jetzt so laut, als würde ich es in der echten Welt hören.
Genug der Philosophie! Ich schlage auf dem Boden auf und die Zeit läuft schlagartig normal weiter. Vielleicht sogar etwas zu schnell, denn ich merke kaum, gegen was ich alles stoße, bis ich endlich zum Liegen komme. Ich glaube, eine rotweiß geringelte Schlange war auch darunter …
Ächzend stehe ich auf und schüttele etwas Erde aus meinem Ohr. Dann sehe ich mich um.
Verdammt! Der Dieb ist natürlich längst über alle Baumkronen. Ich habe nicht einmal mehr eine Idee, in welche Richtung ich gerade noch unterwegs war. Ganz zu schweigen davon, dass der Becherdieb ja auch Haken schlägt.
Ich atme tief durch. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und brülle aus voller Kehle: „MIIIST!“ Anschließend lasse ich hingebungsvoll den Kopf hängen.
„Hugh.“
Ich blinzele. Ein wenig außer Atem bin ich schon. Um genau zu sein, bleibt mir keine Luft zum Schreien, als ich in das längliche Gesicht keinen Zentimeter vor mir starre. Braune Haut, eine Menschennase, dickes, verfilztes Haar, aber ungewöhnlich strahlende, grüne Augen.
„Wer bist du?“, frage ich.
„Ich Tarzan. Du …?“
„Marvin. Ich Marvin.“
„Ich Tarzan, du Marvin.“
Ich nicke. Nicht das seltsamste Gespräch, das ich je hatte. „Sag mal, Tarzan … hast du einen Becher gesehen? Aus Holz? Mit einem diebischen Affen daran?“
„Affen stehlen.“ Tarzan nickt ernst.
„Genau! Affen stehlen. Und zwar meinen Becher. Es … ist ein sehr wichtiger Becher.“
Tarzan legt den Kopf schief. Schulterlange Dreadlocks fallen ihm bis auf die Brust. Er trägt … nicht sehr viel, aber immerhin genug, dass das Buch als jugendfrei gelistet bleiben darf. Was man von ihm sieht, ist gebräunte, muskulöse, muskelgewölbte Haut.
„Du Becher wollen?“
Ich nicke eifrig. „Genau. Kannst du mir helfen?“
„Tarzan helfen …“ Er grübelt. War das jetzt eine Frage oder eine Zustimmung oder was? Dann sieht er mich an. „Tarzan helfen – wenn Marvin Tarzan helfen!“
„Ich … ich muss was dafür tun?!“ Och nööö!
Tarzan nickt ebenso eifrig wie ich gerade. Dann winkt er mich mit sich.
Ich trotte dem hüpfenden Menschen hinterher. Für einen Menschen wirkt er ganz in Ordnung. Er läuft ordentlich auf allen Vieren, statt sich für etwas Besseres zu halten. Er spricht Tiersprache! Wenn auch mit einem gewissen Akzent. Und er lässt mich nicht zu lange laufen, bis er mir bedeutet, anzuhalten.
Wir spähen durch das Gebüsch. Vor uns liegt eine blaue Bucht, auf drei Seiten umringt von Klippen. Nur ein schmaler Sandstreifen neben der Buchtöffnung ermöglicht es der Besatzung eines großen Containerschiffes, ihre Ladung im Sand zu verstreuen.
Das sind wieder typische Menschen, die ihren Müll einfach so auf den weißen Strand kippen! Tarzan beobachtet meinen Gesichtsausdruck und nickt ernst, als er die Wut darin liest.
„Du helfen. Machen Menschen Angst, bis Menschen weg.“ Er grinst mich an. „Menschen Angst vor Wolf. Nur aufpassen, Menschen Knallstock!“
Ich schüttele mich. „Du willst, dass ich eine Horde Bewaffneter von deinem Strand vertreibe? Die sind in der Überzahl.“
„Wenn Menschen weg, Tarzan bringen Becher. Tarzan reden mit Affen und tauschen Becher ein.“ Er hat mir nicht zugehört. Oder meine Einwände sind ihm egal.
Seufzend sehe ich nach unten. Wir hocken auf einer Klippe, inmitten des dichten Unterholzes, das auch moosig in die Tiefe wuchert. Es könnte hier so schön sein, wenn diese Kisten und Menschen nicht wären.
„Also gut. Ich sehe, was ich tun kann.“
Tarzan nickt, klettert in einen Baum und schwingt davon, ohne noch etwas zu sagen. Ich trotte nach unten. Es kostet mich weitere kostbare Minuten, sicher eine Viertelstunde, bis ich in die Nähe des Strandes komme.
Dann allerdings spitzen sich meine Ohren sozusagen von selbst. Ich habe einen Geruch wahrgenommen, der mir sofort das Wasser im Maul zusammenlaufen lässt.
Vielleicht sind die Menschen doch nicht so übel … sie haben nämlich Brotchips dabei! Und wer Brotchips hat, kann einfach nicht schlecht sein.
Brotchips sind Leben. Brotchips sind Liebe.
Brotchips sind ALLES!