Am Morgen meines dritten Tages brechen wir auf. Ifrit führt mich auf die Schimmerweltpfade, wo sie sich deutlich besser zurechtfindet als ich. Das mag daran liegen, dass ich keinen Orientierungssinn habe, ich vermute aber, dass die Schimmerwelt einfach Angst davor hat, was passiert, wenn sie Ifrit wütend macht.
Bösen Wesen wie den Dämonen fällt alles oft etwas leichter als normalen Kreaturen. Es ist, als würde sich die Welt der Dämmerzeit ihrem Willen beugen, ihnen bloß keinen Ärger bereiten wollen. Während ich mich also nur über Wege begebe, die ich sehr gut kenne, trottet Ifrit einfach los und kommt früher oder später an ihrem Ziel an – meist sehr zum Leidwesen des betreffenden Ziels. Schon seit Jahren springt sie zwischen verschiedenen Welten umher und stiftet Unheil.
Heute bin ich ganz froh, mich in ihrem Windschatten halten zu können. Schließlich erreichen wir ein Portal, und steigen hindurch in einen schwülen Vormittag voller Grünzeug. Die Luft scheint zu stehen, zum Schneiden dick, überall kreischen Tiere, die ich nicht sehen kann. Fleischige und gummiartige Blätter verdecken die Sicht, Lianen und trockene Schlingen hängen aus den Baumkronen. Ich rieche Salzwasser, diverse kleine Säugetiere und … Eintopf?
„Du sabberst“, sagt der Tiger neben mir belustigt. „Na dann, immer der Nase nach.“
Ich werfe einen zögerlichen Blick auf ihr ermutigendes Nicken, dann wage ich mich in das Unterholz.
Der Erdboden ist weich und warm. Unter trockenen Rindenstückchen wimmeln große Tausendfüßler aus meinem Weg. Auf den grünen Blättern verdunsten die Reste des Morgentaus, was das Laub klebrig macht. Ich sehe bunte Frösche am Stamm eines Baumes kleben. Von ihnen stammt ein Teil des schrillen Lärms, der fast meine eigenen Gedanken übertönt.
Dann sehe ich einen Schatten über mir und zucke zusammen. Etwas Großes fliegt vorbei … es ist schneller weg, als ich es erkennen kann.
„Was hast du?“ Ifrit ist fast in mich hineingelaufen.
„Hast du das auch gesehen?“
„Was meinst du?“ Sie stiert angestrengt nach oben, blinzelt gegen das Sonnenlicht, das durch die höheren Laubschichten dringt. „Ist da eine Schlange?“
„Hier gibt’s Schlangen?“
„Natürlich.“
„Und du lässt mich vorgehen?“
„Also, ist da eine Schlange?“, lenkt sie rasch ab.
„Nein.“ Ich schüttele den Kopf. „War sicher nur ein Streich von Lyssa.“ Ich habe nämlich inzwischen auch einen Elch aus dem Augenwinkel bemerkt, und der ist garantiert nicht wirklich hier! Sobald ich das erkannt habe, hat er sich blau gefärbt und ist verpufft.
So eine kreative Fantasie ist manchmal echt anstrengend.
Wir gehen weiter und plötzlich lichtet sich der Wald vor mir. Als hätte man ihn mit einem Messer abgetrennt. Die grüne Torte des Dschungels endet und führt auf das heiße Goldgelb eines Strandkuchentellers. Das Meer … hm, das wäre wohl die Serviette. Eine türkisgrüne Serviette mit weißem Muster, die gegen den Kuchenteller spült, auf dem Muscheln wie feine Krümel liegen.
Ich glaube, ich habe einfach Hunger. Der köstliche Duft entstammt einer Hütte, die auf Stelzen im Wasser steht und über einen wackeligen, schiefen Steg erreichbar ist. Rauch steigt aus dem Schornstein. Das Wasser leckt von unten an den tieferen Stufen des Stegs, auf denen sich Seepocken festgesetzt haben. Statt einer Tür gibt es nur einen leise im schwachen Wind klappernden Perlenvorhang. Ich schiebe vorsichtig den Kopf herein.
„Guten Appe… ich meine, Hallo.“
Eine dunkelhäutige Menschenfrau sieht überrascht auf. Einen Moment starren wir einander an. Ich betrachte die kleinen Knochen und Steinchen, die in ihr Haar geflochten sind, die geschwärzten Zähne, als sie lächelt, die Kleidung aus Bananenblättern, den Schrumpfkopf, der an ihrer Hüfte baumelt. Sie hockt vor einem Kochfeuer, über dem der leckere Eintopf blubbert.
„Ein Wolf!“, ruft sie erstaunt. Dann entspannt sie sich und richtet den Blick etwas höher. Ich schiele ebenfalls hoch, da sich der Perlenvorhang nochmal geteilt hat. Ifrit guckt über meinem Kopf herein.
„Ifrit!“, sagt die Fremde. „Wie schön, dich zu sehen.“
„Hallo Jasmin!“
Jasmin? Das ist doch kein Name für eine Voodoo-Priesterin!
Ifrit fährt jedoch gleich fort, bevor ich nachhaken kann. „Das hier ist ein Kumpel, der einen Becher benötigt, der sich mit Angst füllen lässt. Die hast du doch, oder?“
„Natürlich. Wobei ich die mal wieder nachbestellen müsste.“ Jasmin rührt noch einmal im Eintopf und steht dann auf. Barfuß tapst sie zur Rückwand.
„Als Bezahlung kannst du einfach …“, setzt Ifrit an.
„Ein Becher für den Wolf, gerne. Um deinen Fluch soll ich mich auch kümmern, Ifrit?“, fragt Jasmin, ehe sie aussprechen kann.
„Welchen Fluch?“, fragen wir unisono. Ich sehe Ifrit besorgt an. Hat sie mir was nicht erzählt? Doch der Tiger guckt ebenso verständnislos zur Voodoo-Priesterin.
Die gestikuliert in Ifrits Richtung. „Oder ist das absichtlich?“
„Was absichtlich?“ Ifrit hebt eine Pfote, um auf ihr Fell zu sehen.
Ich reiße die Augen auf. „Jetzt, wo sie es sagt … seit wann bist du pink?“
Das ehemals rote Fell meiner besten Freundin am Rücken und den Außenseiten der Beine ist jetzt knallrosa. Das ist mir gar nicht aufgefallen, das muss sich schleichend verfärbt haben.
„Seit wann bin ich pink?!“, japst der Dämon.
„Sieht aus wie ein abgeschwächter Zombiefluch – er kann dich nicht in eine Untote verwandeln, immerhin bist du zur Hälfte Vampir“, erläutert Jasmin. „Und er scheint frisch zu sein. Ist aber kein karibischer Fluch und ansonsten gibt es solche eigentlich nur in Pyramiden und so …“
„Pyramiden!“, japse ich. „Doch nicht etwa … der Honigmet!“
„Wolf!“, knurrt Ifrit. „Diese merkwürdigen Zeichen auf der Flasche waren gar keine Verzierungen, richtig? Hast du den etwa von einem Pharao gestohlen?“
„Na ja …“
„Und mir geschenkt? Ohne Warnung?“
Ich kauere mich auf den Bauch. „Tut mir leid!“
Der Tiger knurrt grollend. „Pink! Warum ausgerechnet pink? Hör mal, Jasmin, ich wollte eine meiner Gefälligkeiten dafür einfordern, dass du ihm den Becher gibst. Den nehme ich jetzt für mich.“ Der Tiger sieht mich aus glitzernden Augen an „Und du, sieh zu, wie du den Becher bezahlst!“
„Aber ich wusste doch nicht …“ Der Tiger dreht sich ab und marschiert zurück zum Strand. Ich kann die schweren Schritte auf den Planken hören, und sogar das Kratzen der Klauen auf Holz.
Ich schätze, ich bin noch glimpflich davongekommen. Tief durchatmend wende ich mich an Jasmin. „Also gut. Wie teuer ist so ein Becher?“
Die Voodoo-Priesterin entblößt die dunklen Zähne erneut beim Lächeln. „Du musst mir nur eine Kleinigkeit besorgen …“