„Brrr!“
Ich bin in etwas Kaltes getreten. Erschrocken mache ich einen Sprung zurück. Dann strenge ich meine Augen an. Was bei der Finsternis … Ah, da ist ein Fluss!
Es ist, nun, ein wenig dunkel. Am Himmel ist nur eine schmale Sichel von Lunis zu sehen, ein silberner Grashalm im Nachthimmel. Abnehmender Mond, beinahe Neumond. Ein schlechtes Zeichen. Lunis kehrt ihr Antlitz von uns ab. Ein Tanz zur Erinnerung an die Finsternis, damit wir nie vergessen, dass die Dunkelheit immer droht.
Und ich hätte sehr gerne noch mal einen Vollmond gesehen!
Während ich meine Pfoten ausschüttele, versuche ich, die Breite des Flusses einzuschätzen. Unter den Bäumen, die das Sternenlicht ersticken, ist das schwierig zu sehen. Vielleicht sollte ich ein Stück bergauf gehen, da werden so Flüsse doch schmaler.
Oder ich gehe in eine andere Richtung. Ist ja nicht so, als hätte ich ein Ziel.
„Wer ist da?“, fragt eine helle, leise Stimme.
Ich drehe den Kopf. „H-hallo?“ Es klingt nach etwas Kleinem. Ich lege mich auf den Bauch, um weniger bedrohlich zu erscheinen. „Ich … bin Marvin.“
„Freut mich, Marvin.“ Jetzt sehe ich eine kleine Gestalt, wie ein menschliches Kind, die unter einem Strauch hervortritt. Sie riecht nach Moos und Pflanzen. „Ich bin Hanami.“
„Weißt du zufällig, wie ich über den Fluss komme? Kann man da durchlaufen?“
Die Gestalt verneint. „Selbst einer so groß wie du sollte das wohl nicht schaffen. Du müsstest ein Stück bergauf.“
Wie ich es mir dachte. Ich richte mich auf. „Also gut, dann …“
„Warte einen Moment. Wenn du den Berg hinaufläufst, kannst du mich vielleicht mitnehmen?“ Die Stimme der kleinen Frau zittert, aber sie tritt mutig weiter vor.
„Öhm. Wieso nicht?“ Ich lege mich wieder hin, damit Hanami auf meinen Rücken klettern kann. Es zieht ganz leicht, als sie sich an meinem Fell festhält. Die Narben auf meinem Rücken ziepen auch ein wenig.
„Danke! Du musst wissen, ich bin verflusst worden.“
Ich stehe auf und trete meine Reise wieder an, langsamer, damit ich Hanami nicht in irgendwelchen hinterhältigen Zweigen verlieren kann. „Verflusst?“
„Es war ein Unfall. Ich war am Fluss und habe nicht aufgepasst. Schon wieder!“
„Dir passiert so etwas häufiger?“
„Beim ersten Mal ist so ein Wolf vorbeigelaufen. Er muss mich übersehen haben. Da bin ich in den Fluss gefallen und mitgerissen worden.“
Ich lege die Ohren an. „Ein Wolf, wie?“
„Zum Glück kam da so eine Keltin vorbei, Ceridwen. Die hat Gol geholfen, mich zu finden.“ Hanami lacht leise. „Und dann bin ich gestern wieder Beeren sammeln gegangen und an der gleichen Stelle abgerutscht! Das Ufer ist da noch immer etwas abfällig.“ Sie seufzt. „Ich hoffe, Gol macht sich keine Sorgen.“
„Jedenfalls nicht mehr lange!“, verspreche ich entschlossen und trabe etwas schneller. Zum Teil, weil ich Hanami vor Anbruch des Tages abliefern möchte, ehe sie mich noch erkennt. Wenn hier ein Wolf für Unruhe sorgt, dann wohl immer nur einer …
Allerdings dauert der Aufstieg länger als gedacht. Ein roter Streifen erhellt den Himmel und verdrängt die Sterne, als wir endlich ein fernes, heiseres Rufen hören.
„Hanami! Hanaaamiii!“
„Gol!“ Der Gast auf meinem Rücken zappelt. „Los, wir sind gleich da!“
Ich flitze los, immer noch am Fluss entlang, und dann auf die Wiesen. Dort steht ein grüner Wiesenschrat und reißt die Augen auf, als er einen Wolf auf sich zukommen sieht.
Ich bremse rasch ab. „Tschuldigung, zu stürmisch. Jedenfalls, hallo Gol. Ich habe Hanami gefunden!“ Ich lege mich wieder hin, damit die kleine Frau absteigen kann.
„Hanami!“, ruft Gol erleichtert aus. Oh, da ist ja doch etwas mehr Angst im Becher. Der Zufluss versiegt allerdings, als der Wiesenschrat seine Frau in die Arme zieht.
Dann wirbelt der Schrat herum und schlägt mit einem Zweig nach meiner Nase. „Und du! Dass du es noch mal wagst, hier aufzutauchen! Zweimal hast du meine Frau jetzt schon verflusst, du Untier!“
„Au!“ Ich weiche zurück.
Hanami springt zwischen uns. „Warte, Gol! Diesmal war er ja gar nicht schuld! Ich bin ganz von selbst verflusst worden, ich hatte nicht aufgepasst!“
Mit einem leisen Knurren hält Gol inne und sieht zwischen uns hin und her. Ich habe noch nie einen so finster guckenden Wiesenschrat gesehen! Normalerweise lächeln die immer. Immer!
Ich reibe mir mit der Pfote die Nase. „Ich möchte mich bei dir entschuldigen, Gol, und auch bei dir, Hanami. Ich habe euch wohl einen ziemlichen Schreck eingejagt. Es war nicht meine Absicht, ich hatte euch damals schlicht nicht gesehen – was es nicht besser macht, natürlich. Es tut mir leid.“
Gol schnaubt. „Aha.“
„Und jetzt hat er mir zurück nach Hause geholfen!“, sagt Hanami.
Ich nicke eifrig. Das ist doch bestimmt was wert!
Gol guckt aber noch immer finster. „Und wieso hat er dir geholfen? Hat er dich aktiv gesucht? Sich darum gekümmert, was für einen Schaden er angerichtet hat? Oder war das vielleicht Zufall?“
„Also …“
„Er war am Fluss und hatte mich nach der Richtung gefragt, und als ich meinte, er muss bergauf, wollte er mich mitnehmen!“, erklärt Hanami.
Das macht es aber auch nicht besser. „Er hat also im Gegenzug noch etwas bekommen!“ Drohend hebt Gol den Zweig. „Und nur, weil es ihm gerade in den Kram passte, hat er dir geholfen! Was willst du jetzt, Wolf, ein Loblied? Vielleicht noch eine Belohnung? Ich fasse es nicht.“
Ich nehme wieder Abstand zum Stöckchen ein. „Nein, nein, ihr müsst mir nichts geben. Also, es sei denn, ihr wisst, wo …“
„Jetzt reicht es aber!“, brüllt Gol. „Scher dich hinfort, du riesiger Trampel!“
Ich trotte in einem Bogen um die beiden und zum Fluss. Hinter mir höre ich Gol noch schimpfen.
„So ein dreistes Tier. Wölfe, ich sage es dir! Schlimmer sind nur Vampire!“ Dann nimmt er offenbar seine Frau in den Arm. „Geht es dir gut, Liebling? Du bist ja ganz nass!“
Ich durchquere den Fluss. Auf der anderen Seite bin ich immerhin sicher vor nasenzielenden Zweigen. Die tun weh!
Nach einem letzten Blick auf Gol, der seine Frau mit sich zieht, lächele ich. Nein, nicht, weil eine gute Tat so ein tolles Gefühl hervorruft oder dergleichen – Gols wütende Reaktion war ein Schock. Aber er hat mir indirekt doch einen guten Tipp gegeben.
Ich weiß jetzt, woher ich meine Angst kriege. Hoffentlich reicht die Zeit dafür noch!