Ich suche fast die ganze Nacht nach einem Wurmloch. Nein, kein Regenwurmloch, sondern ein Riss zwischen den Welten, durch den man rasch an einen anderen Ort gelangen kann. Schließlich bemerke ich einen flackernden Stein, der mal da ist, mal nicht. Also hüpfe ich kurzerhand hinein.
Das sollte man übrigens nur als erfahrener Weltenwanderer machen. Ansonsten stößt man sich fies den Kopf! Also, Welpen, nicht zuhause nachmachen.
Ich habe inzwischen jedoch dazu gelernt. Deshalb lande ich auch nicht mit der Nase im Granit, sondern falle durch den Stein hindurch auf die verwirrenden, verschlungenen Wege der Schimmerwelt. Hier gibt es mehr Wege als Knoten in einem Wollknäuel, das man siebzehn hyperaktiven Katzen zum Spielen gegeben hat, aber ich kann im wahrsten Sinne des Wortes meiner Nase folgen, denn einen Ort finde ich tatsächlich immer wieder: Die Wikiothek.
Ich brauche nicht lange, um die weißen, hell erleuchteten Hallen zu betreten. Hier herrscht immer Tag, perfektes Leselicht also, das durch die Glaskuppel des Daches fällt.
„Hallo Marvin!“
Und hier findet man immer Freunde! Ich lasse mich nur für einen Moment vom Kakao ablenken, plaudere aber gar nicht so viel über meine Abenteuer. Insbesondere, da Ceridwen ankommt und nach irgendeiner Hanami oder so fragt, die ich mal in einen Fluss geworfen haben soll. Wer? Irgendein winziges Moosfräulein? Daran kann ich mich nicht mal erinnern, und so trete ich lieber elegant den Rückzug an.
Glücklicherweise taucht die Wikiobiblika selbst bald auf. Ich eile zu ihr. „Hör mal, ich brauche einen Becher, in den man Angst füllen kann. Irgendwelche Ideen?“
„Marvin!“ Die Wikiothek, heute in Gestalt eines gläsernen, weißen Pfaus, sieht mich überrascht an. „Bist du immer noch auf dieser merkwürdigen Quest?“
„Ja. Aber jetzt bin ich beim letzten Item. Eben ein Becher voll Angst.“ Aufgeregt sehe ich sie an. Sie weiß alles, sie besitzt schließlich alles Wissen der Welt! „Wo kann ich anfangen, nachzulesen?“
„Hm … Wie viel Zeit hast du denn diesmal?“
„Massig.“
Der Pfau hebt die filigranen Glasfedern über dem einen Auge. Erstaunlich, wie skeptisch er ohne Augenbrauen gucken kann! „Marvin … Sag die Wahrheit. Du hast zweimal fast deine gesamte Zeit hier verloren.“
„Sieben Tage“, gebe ich zähneknirschend zu. „Beziehungsweise, jetzt sind es wohl nur noch sechs.“
„Sechs!“
„Deswegen darf ich keine Zeit vergeuden“, sage ich rasch. „Zum Beispiel, wenn ich am falschen Ort suche.“
„Ich verstehe deine Sorge …“
„Also? Wo soll ich anfangen?“
„Das kann ich dir so spontan auch nicht sagen.“ Der Pfau wendet sich mir zu. „Ich müsste selbst erst nachlesen. Aber das wird dauern, verstehst du?“
„Ich kann war…“
„Nein, kannst du eben nicht!“ Der Glasvogel schlägt leicht mit den Flügeln. Das Licht bricht sich zu zahlreichen Regenbögen. „Du hast keine Zeit, Marvin. Und deshalb kann ich dich nicht hier rein lassen.“
Ich setze mich unsanft. „Was?“
Die Wikiothek seufzt. „Es tut mir wirklich leid. Aber die letzten beiden Vorfälle haben mir gezeigt, dass du hier zu viel Zeit vergeudest. Heute zum Beispiel hast du den ganzen Vormittag hier verbracht.“
„Es ist schon Mittag?“, frage ich mit schwacher Stimme. So viel habe ich doch gar nicht getan! Nur ein bisschen was getrunken und Hallo gesagt!
„Wenn ich dir erlaube, zu bleiben, sind deine letzten Tage viel zu schnell verstrichen“, erklärt die Wikiothek mit trauriger Stimme. „Ich würde dir gerne helfen, aber das kann ich nicht verantworten.“
„Wie soll ich den Becher denn ohne dich finden?“, frage ich entsetzt. Ich springe auf und versuche, an dem Glaspfau vorbeizukommen. „Ich werde nur eben etwas recherchieren und …“
„Nein!“ Der Pfau schlägt ein Rad. Das Licht bricht sich in mehreren großen Pfauenfedern, von denen jede statt eines Auges ein schwarzes Symbol trägt. Buchstaben verschiedenster Schriftsysteme blenden mich mit dem strahlenden Licht der Mittagssonne, die sich wie eine Explosion auf den Glasfedern vervielfältigt.
Geblendet stolpere ich rückwärts, bis es endlich etwas dunkler wird. Die Wikiobiblika hat ihre Federn wieder eingepackt, als ich die Tür erreicht habe.
„Viel Glück, Marvin Grauwolf“, sagt sie leise. „Bitte verzeih mir. Ich will dir nur helfen.“
Ich gebe mich geschlagen und trotte nach draußen, jedoch nicht, ohne etwas zu grummeln. Helfen will sie, ja? Wieso kann sie mich dann nicht recherchieren lassen? Sooo schlimm sind meine Zeitmanagement-Skills doch gar nicht.
Aber ich ahne, dass sie recht hat. Ich kann es mir nicht leisten, wieder in Recherchen zu versinken. Vermutlich werde ich in der kurzen Zeit auch nichts Brauchbares finden.
Vor den Hallen, die mir nun verschlossen sind, bleibe ich stehen. Wenn ich mich auf mein eigenes Wissen verlassen muss, sollte ich das wohl auch mal nutzen. Wo kann ich noch auf Hilfe hoffen? Wer könnte etwas über Angst wissen?
Es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Ich habe noch eine andere gute Freundin, die sich praktischerweise mit Angst und Dämonen auskennt!
Ganz klar: Ich muss zu Ifrit. Der Weg ist von hier aus auch glücklicherweise nicht sehr lang, wird mich aber nochmal etwas Zeit kosten. Also versuche ich, den Rat der Wikiothek umzusetzen. Ist das eine sinnvolle Zeitinvestition?
Ich bin mir ziemlich sicher. Ifrit weiß alles über Ängste!
Also setze ich mich in Bewegung. Ich bin ja ohnehin schon auf den Pfaden der Dämmerwelt. Im goldenen Licht, das hier vorherrscht, als wäre bester Nachmittag im Altweibersommer, suche ich nach den kältesten Pfaden und arbeite mich langsam vor zur Welt von Ishmaril, wo Ifrit sich aus irgendeinem Grund immer noch wohl fühlt. Wenn der schneidende Winter selbst mir zu viel wird, heißt das schon was!
Aber dort werde ich hoffentlich Hilfe kriegen.
„Na schön“, begrüßt mich der Tiger, als ich ziemlich wortwörtlich in Ifrits Höhle im Schnee geschneit komme. „Was willst du diesmal?“