Das Problem dieser einzelnen Mutter scheinen noch andere Eltern im Dorf zu haben. Ehe sich die Nacht vollständig herniedersenkt, bekomme ich noch mehrmals mit, wie sich Kinder Minute um Minute kostbarer Draußen-Zeit erkaufen. Das ehemals stärkste Druckmittel – die Warnung vor dem Kürbisreiter – stößt nur noch auf Gelächter. Ein Teil von mir will sich den kürbiskopflosen kopflosen Reiter jetzt auch mal ansehen, aber ich verschiebe das auf später. Als es schließlich ruhig wird im Dorf, nähert sich nämlich Mitternacht. Und mir wird klar, dass ich nur noch zwei Tage Zeit habe, um den Becher zu füllen!
Dabei sind wir doch erst zu … drei Fünfteln durch das Buch! Das geht alles viel zu schnell! Ich kriege langsam Angst, dass meine Geschichte künstlich gekürzt wird.
Ich suche mir schließlich ein ruhiges Fleckchen dieses nicht länger von Geistern heimgesuchten Dorfes. Unter einem grünen Strauch versuche ich, meine Kräfte zu bündeln. Statt zu schlafen, grübele ich aber nur über Lösungsmöglichkeiten. Die Kinder haben keine Angst mehr vor dem Reiter. Das ist nicht nur für mich schlecht, sondern sogar für ihre Eltern! Wenn ich den Kindern also wieder nachdrücklich Angst machen könnte, wäre das doch ein Dienst an der Allgemeinheit.
Nun, hier zeigt Lyssa mal wieder ihr Können. Sie lässt sich zwar nicht immer zu etwas zwingen, allerdings kann sie sehr kreativ werden, wenn man ihr eine Aufgabe stellt und dann behauptet, dass sie unmöglich zu lösen wäre.
Es ist sicher total unmöglich, dieses Dorf mit einer guten Horrorgeschichte zu retten – hehe.
Dann rolle ich mich zusammen, schließe die Augen und erwarte den nächsten Morgen.
~*~
Die größte Schwierigkeit besteht dann darin, die Kinder zusammenzubekommen. So verbringe ich einen Großteil des Tages, von den frühen Morgenstunden bis zum Beginn des Nachmittags damit, Kinder in Seitengassen zu locken und ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen, wenn sie zum Feld hinter dem Dorf kommen. Schnell wird mir klar, dass das erst nach dem Mittagessen was wird, da viele Kinder etwas namens ‚Schule‘ haben. Klingt nach einer schweren Krankheit, die einen nur nachmittags nach draußen gehen lässt.
Jedenfalls bedinge ich mich als Hütehund und muss dabei den echten Hunden des Dorfes ausweichen. Die sind nämlich gar nicht so begeistert von einem Wolf im Dorf, warum auch immer.
Letzten Endes habe ich aber Erfolg und kann eine Reihe Kinder auf dem Feld versammeln.
„Ich will euch eine Geschichte erzählen.“
„Wo sind die Süßigkeiten?“, kräht ein kleiner Junge.
„Ja, und das Kaninchen!“
„Du sagtest, du hättest einen ganz tollen Frosch!“
„Beruhigt euch!“, beschwichtige ich den (leicht klebrigen) Kinderhaufen hastig. „Hört mal, es tut mir sehr leid, aber ich musste euch ein bisschen austricksen, damit ihr auch alle kommt. Ich habe nämlich eine sehr, sehr wichtige Warnung! Etwas, das eure Eltern euch verheimlichen wollen.“
Damit habe ich ihre Aufmerksamkeit. Dann werde ich diesen fruchtbaren Acker mal bepflanzen!
„Es ist so … es gab mal zwei Kinder aus diesem Dorf, einen Jungen und ein Mädchen, Geschwister. Ihre Eltern waren aber sehr arm, und so haben sie eines Tages schweren Herzens beschlossen, ihre Kinder in den Wald zu bringen und dort zurückzulassen.“
„Warum?“
„Was sind das für Eltern?“
Ich bestehe den Fragensturm und erkläre geduldig, dass Eltern manchmal zu ganz furchtbaren Dingen gezwungen sind, und dass die Mutter auch eigentlich bloß eine böse Stiefmutter war, die den Vater zu der schlimmen Tat gedrängt hatte. Kurzerhand gebe ich den beiden Kindern Namen, um meine Geschichte glaubhafter zu machen.
„Die beiden Geschwister waren jetzt ganz alleine im Wald“, erzähle ich meiner geschockten Zuhörerschaft. „Sie liefen herum, fanden den Weg nach Hause aber nicht mehr. Und das, obwohl sie eine Spur aus kleinen Steinchen gelegt haben! Der Bruder hat nämlich am Tag vorher gehört, wie die Eltern …“
Gut, ich schmücke die Geschichte vielleicht etwas mehr aus, als es sein müsste. Aber richtig gute Geschichten leben von Hintergrundlore und Abschweifungen und so! Sonst könnte ich ja gleich ein Fax schreiben – nein, nein, so läuft das nicht.
„Als sie dieser Spur aus kleinen Steinchen jetzt aber folgten, fanden sie nur eine kleine, schiefe Hütte vor.“
Die Kinder sind dichter zusammengerückt. Einige sehen besorgt zu den Wäldern in der Nähe. Und das am hellen Tage – Lyssa ist gut.
Ich stelle den Becher für die Angst unauffällig in die Mitte.
„Als sie sich der Hütte näherten und klopften, schwang die Tür auf. Mit einem Knirschen, so:“ Ich gebe eine Demonstration, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen könnte. Schon langsam und leise. Wjiiieeek! „Dahinter liegt ein dunkles Zimmer, scheinbar leer. Dann aber hören die Kinder eine hohe Stimme: Knusper, knusper, knäuschen, wer knabbert an meinem Häuschen?“
Ein Mädchen hält sich ängstlich die Ohren zu. Ich schiele in den Becher. Er ist bereits zu einem Drittel mit einer zähflüssigen, schwarzen Masse gefüllt. Gut. Guuut! Lasst die Angst durch euch fließen.
„Die beiden Geschwister zucken zusammen und kauern sich auf die Erde. Als sie sich aufrichten, ist das Zimmer jedoch hell erleuchtet. Vor ihnen steht ein Tisch, über und über beladen mit allen Köstlichkeiten der Welt! Bonbons! Hasenleb… ähh, Lebkuchen! Kekse!“
Verwirrt sehen die Kinder mich an.
„Das klingt lecker, nicht?“ Ich grinse. Der Becher ist schon zu einem Drittel voll. „Das dachten die Kinder auch. Aber diese Hütte gehörte einer bösen Hexe. Als die Geschwister beginnen, all die Köstlichkeiten zu essen, da ist ihr Schicksal besiegelt. Plötzlich fällt die Tür nämlich zu. Mit einem KNALL!“
Die Kinder zucken zusammen. Eines fängt an, zu weinen.
„Der Tisch ist weg, sie stellen fest, dass sie Holz und Erde in den Händen halten und gegessen haben. Es war alles eine Illusion! Jetzt sitzen sie in der finsteren Hütte fest. Und die Geschwister hören ein leises Kratzen immer näher kommen, als würden große Krallen über Holz schleifen. Kratz … kratz … kratz … Ein großes Untier, das …“
„Selber Untier!“ Plötzlich stürmt ein Bauer mit einer Sense in der Hand auf mich zu. „Was soll das hier werden? Den Kindern Angst machen? Findest du das lustig?“
Ich weiche der Sense im letzten Moment aus – auch so ein Satz, der gut als Zusammenfassung für das Buch herhalten könnte – und springe zurück.
„Verzieh dich, Wolf!“ Der Bauer droht mit der Faust. Ein paar andere Eltern tauchen auf und ziehen weinende Kinder in ihre Arme.
Ich schnappe mir den Becher und renne los. Es gibt nur ein Problem: Der Bauer hat den Becher umgestoßen und meine kostbare Angst verschüttet. Nur ein paar Tropfen konnte ich retten. Das wird Sir Prise sicher nicht reichen!
Verfolgt von einem zornigen Mob mit verschiedenem, landwirtschaftlichem Gerät flüchte ich aus dem Dorf.
Verflixt! Und meine Geschichte konnte ich auch nicht zu Ende bringen, dabei hatte Lyssa so eine tolle Monsteridee! Versprochen, das ist kein erzählerischer Shortcut hier!
Mit etwas Abstand sehe ich mir den Bodensatz Angst an, den ich retten konnte. Schön. Wie finde ich in anderthalb Tagen noch genug Angst, um das Ding zu füllen?