„Oh, Piratenwolf, Piratenwolf,
und da dieser Wahnsinn bald enden sollt‘,
die wilde Fahrt dann vorbei,
meine Seele wieder ganz frei!“*
„Wolf?“ Käpt’n tritt zu mir und ich unterbreche mein – zugegeben sehr spontanes – Lied. Fragend sehe ich den Menschen an.
„Wir sollten bald da sein. Poseidon ist uns heute gütig gestimmt.“
„So bald schon?“ Ich sehe nach vorne und bemerke, dass dort ein grüner Streifen in Sicht kommt. Ob das dieser ‚Land in Sicht‘-Ruf eben bedeuten sollte? Ich hatte mich schon gewundert.
Dan stutze ich. „Moment, hast du gerade Poseidon gesagt?“
„Ja“, erwidert Käpt’n verwundert. „Er ist der Gott der See, wir schenken ihm zum Beispiel immer den ersten Schluck Rum und so.“
Oh nein – ein Gott! Es ist echt schade, dass meine eigene Angst beim Becher nicht funktioniert, denn sonst wäre der sicher schlagartig voll. Meine Beine scheinen sich in Gelee verwandelt zu haben, mein Herz rast und mein Fell prickelt mit einem Echo der vielen Blitze, die ich im letzten Buch kassiert habe.
Ich schüttele mich unwillkürlich.
„Wir können ihn sogar eben anrufen, wenn du willst“, sagt Käpt’n gerade, als ich aus meiner kurzen PTSD-Phase zurückkehre.
„Bloß nicht!“, quieke ich.
„Ach, das ist gar kein Problem. Guck, ich nehme nur diese Flasche Rum und werfe einen Schluck über Bord, dann noch eine Muscheln hinterher und ein kurzer Schnitt in die Hand …“
Ehe ich den Menschen aufhalten kann, hat er den guten Rum, eine echt hübsche Muschel und ein paar Tropfen Blut über Deck ins Wasser entlassen.
„Niiicht!“
„Das ist ein total gechillter Gott“, behauptet Käpt’n. „Wenn du so gerne ein Piratenwolf wärst, musst du ihn unbedingt kennenlernen.“ Grinsend weist er auf den Ozean, wo sich gerade ein großer Wirbel bildet.
Ich weiche hinter den Menschen zurück. Ob Poseidon mich erkennen wird? Ich sollte es jedenfalls besser nicht darauf anlegen.
Vor dem Schiff erhebt sich eine mächtige Gestalt aus den Fluten. Ein Mann mit bloßem, muskulösem Oberkörper und dichte, weißen Bart, eine stachelige, goldene Krone auf dem Kopf.
„Keine Scheu, Wolf“, ermutigt Käpt’n mich. „Poseidon ist echt nett, glaub mir! Kein Vergleich mit seinem einen Bruder …“
„Ich, ähh …“ Der Mensch will mich nach vorne schieben. Verzweifelt zappelnd suche ich nach einer Ausrede. „Ich kann ihm doch nicht … ohne einen Piratenhut oder so vor die Augen treten!“
„Hm, das stimmt natürlich. Man will ja einen guten, ersten Eindruck machen.“ Ein Glück, er hat ein Einsehen! „Das haben wir gleich.“
Plötzlich ist alles schwarz. Ich höre Käpt’n lachen, dann rückt er etwas zurecht: Seinen roten Dreispitz. Den hat er mir nämlich kurzerhand auf den Kopf gesetzt.
„So, jetzt bist du ein waschechter Piratenwolf!“ Käpt’n schiebt mich nach vorne. Ich bin zu verdattert, um zu reagieren, und so friere ich einfach panisch ein.
„He, Poseidon!“ Käpt’n winkt dem Gott fröhlich. „Wir haben hier einen zukünftigen Piratenkapitän, der dich kennenlernen will!“
Der riesige Mann beugt sich vor und begutachtet mich. Wasser tropft aus seinem Bart auf die Planken.
„Wie schön, ein tapferer, kleiner Piratenwo… Moment mal!“ Der Gott richtet sich wieder auf. „Du bist doch dieser Grauwolf!“
So ein Mist.
Während die Menschen mich erstaunt ansehen, hebt Poseidon eine große Welle aus dem Ozean, die wie eine Faust auf das Schiff zu jagt. „Du dachtest wohl, wir würden dich vergessen, was? Nein, für deine Taten musst du büßen!“
Die Welle pflückt mich vom Schiff, ohne auch nur einen Menschen zu bespritzen. Sogar der Hut von Käpt’n bleibt unversehrt zurück.
Ich dagegen? Ich fliege in hohem Bogen in den Himmel, kreischend wie eine Frau in einem alten Horrorfilm, mit allen Pfoten zappelnd.
Dann macht mein Magen einen Satz und ich stürze.
„Sir Priiiseee!“
Mit einem Puff erscheint der Dämon neben mir. Da ich weiterstürze, muss er ein paar Mal rekalibrieren, bis er sich in einer Flugbahn parallel zu meinem Sturz bewegt.
„Was machst du denn?“, fragt er grimmig. „Ich war gerade beim Mittagessen!“
„Ich bräuchte mal eben Hilfe!“
„Hilfe? Ich glaube, du missverstehst mich – ich helfe dir nicht. Ich sammele nur am Ende den Becher voll Angst ein.“
„Den Becher habe ich schon!“ Ich hebe das Beweisstück. Den habe ich mir auf dem Schiff mit einem Tuch um die Brust binden lassen, damit ich ihn nicht mehr verliere. „Ich muss ihn nur noch füllen, ehrlich! Und ich habe noch drei Tage – aber nicht, wenn ich auf die Erde stürze.“
„Hm.“ Sir Prise richtet das Visier nach unten, dann auf mich, dann wieder nach unten, dann auf mich. Er nimmt sich dafür verflixt viel Zeit.
„Komm schon!“, bettele ich.
„Na gut. Eine Rettung frei Haus – immerhin hast du schon zwei Aufgaben erfüllt, und zwar erstaunlich gut!“ Sir Prise schnipst mit der gepanzerten Hand. Eine rosa Wolke schiebt sich unter sich und bremst meinen Sturz gerade noch rechtzeitig, um mich zwischen alten Eichen auf der Flanke eines Berges abzusetzen, nicht weit von einem Höhleneingang entfernt.
Der Dämon schwebt noch einen Moment neben mir. „Aber … erzähl das ja nicht weiter! Sonst werde ich deine Seele nämlich trotzdem in den Abgrund reißen!“
„Niemand wird je davon erfahren“, schwöre ich feierlich. „Danke.“
„Und jetzt hol mir meine Angst!“ Puff, weg ist er.
Ich sehe mich um. Die Höhle kommt mir bekannt vor, so mit dem ganzen Schutt in der Nähe. Ha! Es ist die Tausendfarbengrotte. Aufgeregt laufe ich hinein.
„Capracandor? Ly?“
„Marvin?!“ Der Wolpertinger ist inzwischen aus seinem Winterschlaf erwacht. Er kommt mir in der Höhle entgegen.
„Wie schön, dich zu sehen! Wo ist Ly? Wie geht es euch? Sagt mal, wovor habt ihr Angst?“
„Dass du es noch wagst, hier aufzukreuzen!“, sagt der Wolpertinger jedoch zornig. Er baut sich vor mir auf. „Was hast du dir nur dabei gedacht, mein Geweih anzumalen?“
„Ähh …“ Gute Frage. Was habe ich mir dabei gedacht? Langsam verschwimmen diese Abenteuer ineinander und Buch Eins fühlt sich an, als wäre es Jahre her – fünf mindestens. Aber ich bin sicher, dass ich gute Gründe hatte. Waren da nicht irgendwelche bösen Gestalten im Wald? Irgendwas mit Farben? „Ich wollte nur helfen!“
„Helfen? Pah! Dass ich nicht lache!“ Der Wolpertinger knurrt. „Zum Gespött des ganzen Waldes hast du mich gemacht! Verschwinde lieber, bevor ich mich vergesse!“
„Aber … Capracandor …“
Im Blick meines ehemaligen Freundes suche ich einen Funken Verständnis, aber ich finde nichts als kalten Zorn. Also klemme ich die Rute ein und verlasse die Grotte traurig.
Das zu klären, wird ein längeres Gespräch brauchen. Die Zeit dafür habe ich im Moment einfach nicht. Es ist schon fast Mittag und ich brauche jemanden mit Angst.
Danach werde ich das schon aufklären. Ich bin sicher, am Ende des Buches werden wir darüber lachen!
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*siehe letztes Kapitel