„Kinder!“, ruft eine Frauenstimme. „Kommt herein, es ist dunkel!“
Ich spitze die Ohren und husche in die entsprechende Richtung. Kinder sind doch sicher leicht zu beeindrucken! Ich biege um ein paar Hütten. Puh, warum müssen Menschen einem ständig irgendwelche Mauern in den Weg setzen?
„Kinder?“
Stille. Oh, ob die Kinder verloren sind? Das wäre zwar tragisch, aber so ein bisschen hochqualitative Mutterangst käme mir gerade doch sehr recht …
„Kinder!“
„Ja, Mama. Noch fünf Minuten?“
Die Stimme des Jungens, der geantwortet hat, erklingt auf einem kleinen Hinterhof, den ich erreicht habe. Dort sitzt eine Gruppe aus vier, fünf Kindern auf der Erde bei einem hohen Gebüsch, gerade außerhalb des Lichtstrahls, der aus der geöffneten Tür auf die Terrasse fällt. Die Frau im Türrahmen stemmt die Hände in die Hüften. „Nein, ihr hattet bereits fünf Minuten.“
Ich lege enttäuscht die Ohren an. Sie klang eben so ängstlich, aber jetzt ist sie offenbar genervt.
Die Kinder tuscheln zusammen. Ein Mädchen will aufstehen, aber die anderen halten sie fest.
„Nicht! Wir können sicher noch eine Stunde rausschlagen, bleib hier!“ Laut antwortet der Junge: „Wir sind fast fertig!“
„Das habt ihr gestern schon gesagt!“
„Oh-oh, der Gegner weist auf ein wiederholendes Argument hin!“, warnt ein Mädchen, die Hände vor den Mund gelegt, als würde sie in ein Funkgerät sprechen.
„Rettungsmission einleiten“, befiehlt ein Junge halblaut.
„Das war etwas anderes“, ruft der Wortführer laut. „Jetzt sind wir mit etwas anderem fast fertig.“
„Jetzt reicht es mir aber!“ Die Frau wirft sich ein Geschirrtuch über die Schulter und tritt in Schlappen aus dem Haus. „Ihr kommt sofort rein!“
Die Kinderbande – es sind wirklich fünf – flieht ins Gebüsch. Lautes Rascheln folgt, vermengt mit Gekicher.
„Rein mit euch! Oder es gibt morgen kein Frühstück!“
Das beeindruckt die Kinder nicht. Kein Wunder, der Duft eines leckeren Abendessen liegt noch in der Luft, lange kann das nicht her sein.
Ich krauche durch das Gestrüpp auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen Hofes und beobachte, wie die bedauernswerte Hausfrau versucht, die Kinder aus dem Gebüsch zu fischen.
„Hört auf mit dem Unsinn!“, schimpft sie. „Ich meine es ernst, es ist Zeit für’s Bett!“
„Aufteilen!“, brüllt ein Mädchen und das Geraschel verbreitet sich auf ein größeres Gebiet.
„Das darf doch nicht …“ Die Frau unterbricht sich stöhnend. „Kinder, wenn ihr nicht bald reinkommt, wird euch der Kürbismann holen!“
Die Drohung wird mit Gelächter quittiert, was mich überrascht. Hier hatten doch alle so eine Angst vor dem Reiter. Die Kinder etwa nicht?
„Er wird euch entführen und ebenfalls Kürbisköpfe aufsetzen!“, mahnt die Mutter.
„Natürlich!“, ruft ein lachender Junge.
„Der sieht ohne den Kürbiskopf eh langweilig aus. Der kann sicher niemanden entführen!“, ergänzt ein Mädchen.
„Wie will der uns Kürbisköpfe geben, wenn er seinen eigenen schon nicht wiederfindet?“
Kopfschüttelnd lässt die Mutter die Schultern sinken. „Wenn er seinen Kopf erst wiederfindet, dann … ja, dann werdet ihr ihn wieder fürchten!“
Die Kinder lachen noch lauter. Sieht ganz so aus, als hätten Eltern in diesem Dorf ihr wichtigstes Druckmittel verloren! Und wessen Schuld ist das? Nun, ich muss mal wieder meine Schlammpfoten heben.
Die Mutter zieht geschlagen ab. Ich sehe ihr besorgt nach. Vielleicht kann ich ja helfen …
Sobald auch nur die Ahnung eines Entschlusses in mir aufkeimt, krieche ich los, um mein Vorhaben umzusetzen. Ich schätze, dieser Satz könnte auch mein grundlegendes Problem treffend zusammenfassen. Statt darüber nachzudenken, stürze ich mich jedoch in Aktionismus. Auch das klingt wie der Kern meiner Schwierigkeiten.
Jedenfalls, Selbstreflexion beiseite, ich nähere mich den Kindern im Gebüsch und geize nicht mit unheimlichem Rascheln und Pfotengetrappel, das auch Menschen hören können.
„Was war das?“, fragt das Mädchen, das eben auch reingehen wollte. „Habt ihr das auch gehört?“
„Sag bloß, du hast Angst. Das ist doch nur eine alte Gruselgeschichte!“, belehrt sie einer der Jungen.
„Nein, da war was!“
Ich trete kraftvoll auf ein Zweiglein. Knacks!
„Da!“
„Sei nicht albern. Das ist nur ein Igel oder so.“
Ich zupfe den Becher hervor, doch noch tut sich nichts. Ich muss wohl näher ran. Nicht besonders leise breche ich weiter durch das Gebüsch und knurre.
„Ha!“, kräht ein Junge. „Das ist Vater, er will uns nur Angst machen!“
„Sicher? Das klang wie ein Wolf.“
„Kein Wolf würde so herumtrampeln. Außerdem war das Knurren viel zu schrill.“
Zugegeben – ich bin wohl etwas aus der Übung. Um den Kindern zu beweisen, dass ich es ernst meine, lege ich den Kopf in den Nacken und heule. Das sollte ihnen Angst machen.
Doch die Kinder lachen nur lauter.
„Nein, ihr habt recht“, höre ich das Mädchen. „Das kann kein echter Wolf sein.“
„Wie bitte?“ Ich bin ziemlich empört. So empört, dass mir mitten im Geheul die Luft wegbleibt. Diese Jugend von heute hat einfach keinen Respekt mehr!
Dann taucht die Mutter wieder auf, diesmal mit einem Besen in der Hand. Damit schlägt sie in das Gebüsch und treibt die lachenden Kinder heraus. Ich trete den Rückzug an. Mein Kopf gefällt mir ohne Beulen besser, dankesehr.