Ich wage mich nun doch in die große Höhle. Wie sich herausstellt, beachten mich weder Dämonen noch Drachen noch Fledermäuse. Sie haben es nur auf die Menschen abgesehen.
Ich brauche aber sicher eine Stunde, bis ich das raushabe, während ich von Versteck zu Versteck eile und mich beschäftigt gebe, wann immer eine Höllenpatrouille vorbeikommt. So gut, wie ich dachte, sind meine Verstecke wohl doch nicht. Ich dachte halt, die würden mich nicht sehen, aber sie kümmern sich nur nicht groß um den verdächtig in einer Felsnische hockenden Grauwolf. Ein paar schütteln mitleidig den Kopf.
Schließlich finde ich in dem Gewirr aus Höhlen und Labyrinthen aber die Höllenpforte: Ein riesiges, doppelflügeliges Tor aus Eisen, verziert mit Reliefs verschiedener Dämonen und Foltermittel. Das Tor ist hoch wie drei Menschenhäuser übereinander.
Und vor dem Tor sitzt ein großer, schwarzer Hund, hoch wie drei Menschen übereinander, mit drei Köpfen.
Jepp. Das sind wirklich zwei zu viel!
Ich trete vorsichtig näher. „Hallo.“
„Hallo!“ Drei Köpfe hecheln mich an. Puh, was für ein Mundgeruch! „Ich bin Kerberos. Hast du ein Stöckchen?“
„Ähm … gerade nicht, tut mir leid. Ich wollte nur fragen, ob ich kurz vorbei dürfte …“
„Vorbei?“ Der Hund tritt zur Seite. „Klar.“
„Also … mehr so zum Tor.“ Er hat sich nämlich nur auf die andere Seite dessen gesetzt. Ich wage mich ein paar Schritte vor, neben die große Pranke des Riesenhundes.
„Nein!“, bellt dieser so laut, dass es durch die ganze Höhle dröhnt. Diese hier ist eher offen und hat einen Steinboden, über den Karren rumpeln, gezogen von Menschen, die nicht glücklich wirken. Jetzt werfen sich mehrere auf den Boden oder gehen hinter den Karren in Deckung.
Ich hüpfe auch zurück. „Nein?“ Mit der Hinterpfote versuche ich, das Klingeln aus meinem Ohr zu kratzen.
„Nein. Niemand darf durch dieses Tor gehen. Nicht in dieser Richtung. Nur herein dürfen sie.“
„Oh.“ Ich setze die Hinterpfote wieder ab. „Hättest du das nicht einfach sagen können? Ich habe ja nur gefragt.“
„Du hast versucht, dich an mir vorbei zu wieseln!“
Na gut, wo er recht hat … Wenn ich bloß die Tarnkappe noch hätte! Damit könnte ich an dem dreiköpfigen Wachhund vielleicht vorbei. So habe ich keine Chance.
„Hör mal, ich sitze hier nicht ein oder so. Ich bin noch gar nicht tot. Deshalb habe ich in der Hölle auch nichts verloren.“
„Die Hölle ist da drüben.“ Kerberos nickt mit dem linken Kopf in die Richtung, aus der ich gekommen bin. „Das hier ist der Tartaros.“
„Oh. Spielt das eine Rolle?“
„Nein. Jedes Tor ist bewacht. Niemand darf hier raus.“
„Ich bin aber auch gar nicht durch ein Tor hereingekommen!“ Das darf doch nicht wahr sein! Wie soll ich meinen Auftrag erfüllen, wenn ich hier festsitze? Miss … Sir Prise hat einen merkwürdigen Sinn für Humor!
„Ich bewache es jetzt aber“, beharrt Kerberos.
Spielverderber! „Kann ich mir jemandem sprechen, um die Sache zu klären?“ Vielleicht muss ich ja nur ein, zwei Ebenen höher gehen, bis sich jemand meine Beschwerde anhört.
Kerberos legt alle drei Köpfe schief. „Natürlich. Da musst du Hades sprechen.“
„Ha…?“ Das ist eine Ebene zu hoch!
„Gesundheit.“ Der Hund hechelt freundlich. Ich lasse mich vom Mundgeruch zurückwehen.
„Danke. Ich … wo finde ich Hades?“
„Da oben!“ Kerberos deutet auf eine kleine Aufseherhöhle, die die große Höhle überblickt. Schön, das hätte ich mir sogar denken können. Ich bedanke mich nochmal und flitze los, suche einen Weg nach oben und nähere mich der zur großen Höhle offenen Aufseherkammer durch Tunnel im Gestein.
Ich verlaufe mich natürlich noch ein paar Mal. Dabei komme ich sogar an Wasser vorbei! Außerhalb der Hölle gibt es in der Unterwelt nämlich sogar sehr viel Wasser. Der Styx und ein paar andere wichtige Flüsse führen durch den Hades, und hier scheint sogar eine kleine Quelle zu liegen, die feucht aus der Höhlendecke tropft, an einer Stelle über einen Stein rinnt und dann irgendwo in schmalen Tunneln zwischen den Wegen verschwindet.
Spannend. Da denkt man, die Unterwelt sei ein einziges Feuerloch, und dann findet man heraus, dass es ein wirklich großes, vielfältiges Gebiet ist!
Trotzdem ist es ein sehr trostloser Ort. Glücklicherweise bin ich nur als Tourist hier.
Ich brauche eine Weile, um die kleinere Höhle zu finden. Schließlich stoße ich aber auf den Eingang. Ich kann die offene Rückseite sehen, sogar das Portal und Kerberos. Hm, von hier oben sieht er gar nicht mehr so riesig aus!
Außerdem steht hier ein großer Schreibtisch, an den Wänden gibt es ein paar Regale und Aktenschränke. Ich will gerade eintreten, als ich Feuer sehe.
Am Schreibtisch sitzt nämlich ein Mann, der noch gar nicht bemerkt hat, dass sein Kopf lichterloh in Flammen steht!
Ich reagiere sofort und heldenhaft, indem ich aus dem Büro sprinte. Nein, nicht, um mich in Sicherheit zu bringen, sondern um einen Eimer zu holen. Die stehen unten in der großen Höhle und sollen wohl mit Kohle und Stein gefüllt werden. Ich klaue einen, renne zurück zu der praktischen Quelle und dann ins Büro, wo ich das Wasser rasch über den armen Mann kippe.
„Was zum Tartaros?!“ Er springt auf und breitet die Arme aus, die Ellbogen nach oben. Fassungslos starrt er auf seine triefende Kleidung, dann auf den Tisch. „Die ganze Tinte ist verschmiert! Das waren wichtige Urteile.“
„Aber dein Kopf hat gebrannt.“ Ich setze den Eimer ab.
Der Mann dreht sich langsam um. Aus der Nähe sehe ich, dass er kahl ist. Komisch, haben da nicht eben noch Haare gebrannt? Jetzt erhebt sich ein kleines, blaues Flammenzüngchen mitten auf der kahlen Platte …
„Das waren meine Haare!“
„Ups.“
„Du hast meine Haare gelöscht! Und meine Arbeit ruiniert! Was willst du überhaupt hier oben?“
„Ich, ähm.“ Gerade will ich vor allem den Rückzug antreten. Aber ich muss mich wohl wirklich damit beeilen, den Becher voll Angst zu finden. „Ich suche Hades. Ich gehöre nämlich nicht hier hin, ich bin noch nicht tot! Wenn … du ihm das bitte sagen könntest …“ Ich setze meinen niedlichsten Blick auf.
„Ich bin Hades“, sagt der Mann jedoch knurrend. Na gut, bei dem brennenden Haar und der schwarzblauen Robe hätte ich wohl selbst darauf kommen können. „Und ich erlaube dir, die Unterwelt zu verlassen. Nein, ich befehle es dir sogar!“ Ganz langsam streckt er den Arm zur Seite und ergreift eine Lanze, die an der Wand gelehnt hat. „Und zwar so schnell, wie du nur kannst. Bete besser, dass du schneller bist als ich die hier werfe!“
Da nimmt jemand die unfreiwillige Neufrisur aber ziemlich persönlich! Mit über den Boden kratzenden Pfoten mache ich auf der Stelle kehrt. Zum Glück kenne ich den Weg nach unten inzwischen.
„Öffnet das Portal“, befiehlt Hades. Dann erklingt ein lauter Hornruf. „Wer immer den Wolf erwischt, dem wird seine Strafe sofort erlassen!“
Vielstimmiges Heulen antwortet auf den Befehl. Oh-oh. Das ist sicherlich das mit Abstand höchste Kopfgeld in der Geschichte der Kopfgelder!