„Ich habe die Angst!“
„Häh?“ Sir Prise lässt das Schwert ein Stück sinken.
Ich halte ihm den Becher hin. Er ist randvoll mit schwarzer Flüssigkeit.
„Ich habe die Angst“, wiederhole ich und lache erleichtert auf. „Ich habe sie! Ein Becher voll Angst, genau wie bestellt!“
Der Dämon stützt sich auf das Schwert und schiebt das Visier hoch. Darunter sieht er ziemlich unheimlich aus: Rote, verhornte Haut, pechschwarze Augen, spitze Zähne. Er runzelt die Stirn. „Du hast es also wirklich geschafft. Damit … hätte ich nicht gerechnet. Du warst eine ziemliche Wild Card, aber meine einzige Chance. Wieso sagst du das denn nicht gleich?“
„Der Tag muss die Vampire so erschreckt haben, dass ihre Angst den Becher sofort gefüllt hat!“, plappere ich weiter. Nackte Todesangst ist nämlich die einzige Erklärung für die Geschwindigkeit, die sie entwickelt haben. „Ich habe die Angst! Und das schon in Kapitel 25, neuer Rekord!“
„Was für ein Kapitel?“ Sir Prise winkt vor meiner Nase. „Hallo, bist du noch ansprechbar? Bist du im Delirium?“
Entschlossen sehe ich ihm in die Augen. „Du hast deine Angst, ja? Ich bin frei.“
Sir Prise schnaubt. Dann bückt er sich und hebt den Becher. Er schnuppert daran, einen Moment bin ich überzeugt, dass er das ganze Ding herunterkippen wird. Dann steckt er nur die Zunge in die Flüssigkeit und schmatzt nachdenklich.
„Gute Qualität. Ich bevorzuge langsames Grauen, aber das hier ist auch nicht schlecht. Besitzt viel Energie.“ Er sieht mich an. „Ja, Marvin. Deine Aufgabe ist erfüllt.“ Der Dämon richtet sich auf, während er feierlich spricht. „Deine Schuld ist abgetragen.“
„Yesss!“ Ich wedele erleichtert mit dem Schwanz. Ups – an dem Hundefluch muss ich noch arbeiten. Generell habe ich viel nachzuholen. Flüche und Feindschaften, die sich während meines Abenteuers angesammelt haben. Egal, die Hauptsache ist, dass ich wieder frei bin. Alles andere kann ich klären.
Sir Prise tritt an mir vorbei und auf das Eis. Ich zucke unwillkürlich zusammen, aber das Eis scheint wohl stabil genug für ihn zu sein. Dennoch kann ich den Blick nicht abwenden, ja, mich kaum rühren, während er auf das dritte, leere Stundenglas zugeht.
Immer wieder sehe ich schattenhafte Wölfe auf dem Eis aufblitzen, unter denen die Schollen brechen – nur um beim nächsten Blinzeln wieder glatt dazuliegen. Schreie hallen im Sturm über dem See. Dabei ist der eisige Wind nahezu lautlos und treibt bloß einige Flocken dahin.
Ich schüttele den Kopf, um die Visionen zu vertreiben. Sir Prise hat die leere Sanduhr inzwischen erreicht. Auf einer Wolke schwebt er zum Deckel der Uhr hinauf und öffnet dort scheinbar eine kleine Klappe, durch die er die Angst in die große Glasglocke füllt.
Ich erwarte, nicht viel mehr als ein paar dunkle Flecken erkennen zu können. Immerhin ist der Becher winzig im Vergleich zu dem riesigen Stundenglas. Aber dann wirbelt etwas im Inneren des Glases herum, dunkler und dunkler, bis sich Wolken ballen, die in faustgroßen Flocken durch das Nadelöhr in der Mitte tröpfeln und sich unten ansammeln.
Mir klappt das Maul auf. Aus dem Nichts wirbelt sich Schwärze in die Existenz, ohne erkennbaren Ursprung, denn der Becher muss längst leer sein.
Wenig später ist die untere Glocke des dritten Glases beinahe voll. Sir Prise klappt den Deckel oben zu und schwebt zurück auf die Erde. Also, das Eis. Er landet in der Mitte der drei großen Sanduhren, ebenfalls ziemlich genau in der Mitte des zugefrorenen Sees. Bis hierhin kann ich sein spitzzahniges Grinsen sehen, als er die Arme ausbreitet.
Die großen Sanduhren setzen sich knirschend in Bewegung. Ich trete ein paar Schritte vom Ufer zurück, als die Glasbehälter sich ruckelnd drehen und langsam auf den Kopf stellen. Ich kann den Boden unter dem Schnee vibrieren spüren. Ein Wunder, dass das Eis hält!
Dann rasten die Sanduhren mit einem bronzenen, dreifachen Glockenton kopfüber ein. Sie zitternd ein wenig. Ihr Inhalt beginnt, sich den Weg nach unten zu suchen. Plasma mit einem Schweif aus flackernden Flammen. Glitzernde Silbertränen. Tropfende Rauchwolken.
Haarfeine Blitze in Rot, Schwarz und Weiß zucken über die Sanduhren in der jeweiligen Farbe. Während ich rätselnd zusehe, werden diese deutlicher und stärker. Offenbar bauen sie sich langsam auf. Ich schätze, dass die Stundengläser eine gewisse Weile rieseln müssen, bis sie durchgelaufen sind.
Und dann? Das kann mir ja eigentlich egal sein. Aber ich merke, wie sich der Himmel verdunkelt. Die Sonne scheint die Flucht anzutreten – etwas, das Sol niemals tun würde! Er ist doch ein Kriegerwolf!
Wolken ballen sich. Der Himmel wird dunkler. Ich kann Lunis sehen, doch wie erwartet zeigt sie ihr Antlitz nicht. Es ist Neumond.
Mit einem Mal erscheint mir alles viel zu dunkel. Die Wolken verhüllen die Sterne. Das einzige, was leuchtet, sind die Blitze auf dem Eis, selbst die schwarzen Blitze strahlen eine Art Glühen aus, ebenso stark wie das rote und gräuliche Licht der anderen beiden Stundengläser.
„Endlich kann ich meinen Plan vollenden!“, ruft Sir Prise mir über die große Strecke fröhlich zu. „Du darfst es gerne bezeugen, Wolf, aber ich verübele es dir auch nicht, wenn du fliehen willst.“
Das klingt nicht gut! Ich drehe mich um und halte auf den Berghang zu. Am Horizont kann ich noch einen Streifen Licht sehen, der breiter wird, je mehr Abstand ich zum Bergsee kriege.
Ich brauche nur ein kurzes Stück, um den Pass zu erreichen, einen flacheren, sanft geschwungenen, weißen Hügel zwischen den schroffen Spitzen. Dahinter sehe ich einen grünen Wald im Tal unter mir, die Bergflanke - und die Schatten der Wolken, die zu einem Punkt hinter mir streben.
Wo bin ich eigentlich? Wieso musste dieser nervige Dämon mich schon wieder teleportieren? Ich sehe mich um und überlege, ob ich ihn bitten sollte, mich zurückzuschicken.
Sir Prise steht noch immer mitten auf dem See, die Arme ausgebreitet und das Gesicht offenbar zum Himmel gedreht. Ich bemerke dünne, zitternde Linien aus umeinandergewickelten Blitzen, die sich dieser Mitte von den Sanduhren aus nähern, über dem Dämon zusammentreffen und dann langsam einen dreifarbigen Faden nach unten ausbilden.
Ja, gut … da will man ja nicht stören, ne? Außerdem würde ich ihm dann doch sicher nur wieder etwas schulden. Ich trippele rückwärts, ehe dieser merkwürdige Blitz Sir Prise erreicht. Also trabe ich über den Schneehang fort vom Tal. Der Wald dort unten wird ja wohl bewohnt sein. Dort finde ich schon jemanden, der mir sagen kann, wo ich bin und wie ich woandershin komme.
Langsam wird es heller und wärmer, als ich aus dem Schatten der Wolken trete. Diese bilden einen dunklen, von Blitzen durchzuckten Wirbel über dem Tal. Vor mir glänzt der Sonnenschein auf dem Schnee.
Plötzlich donnert es hörbar. Ich zucke zusammen und drehe mich schon wieder um. Dort ziehen sich die Wolken schlagartig zusammen und nach unten, als würde ein großer Staubsauger sie in den Boden saugen. Plötzlich ist der Himmel wieder hellblau und alles still. Der Mond ist nicht länger zu sehen. Sol herrscht wieder über das Firmament.
Die Welt scheint den Atem anzuhalten. Es ist, als wäre das Tal dort oben leer. Vielleicht ist es das sogar.
Ich sage mir erneut, dass es nicht mehr mein Problem ist. Ich habe meine Aufgaben erfüllt, jetzt kann ich nach Hause.
Mit schnellen, aber nicht hastigen Schritten trotte ich den Berg hinunter. Zeit, mich um meinen eigenen Kram zu kümmern!