Wir bleiben ein paar Tage beim Tal und kontrollieren, dass der wandelbare Dämon wirklich kein Lebenszeichen mehr zeigt. Nach drei Tagen ziehen die ersten Helfer ab, denen es hier oben zu kalt wird. Immerhin verabschieden wir uns freundlich voneinander. Der alte Groll ist vergessen – ob es nun Frauen mit einem Besen sind, deren Kindern ich Horrormärchen erzählt habe, oder Igors, deren Anweisungen ich ignoriert habe.
Dieser Kampf hat alle auf eine Weise vereint, wie es wohl nur ein ausgewachsener Krieg kann. Dracula und Mortimer gehen etwas trinken. Gully und Kieselbart sind beste Freunde. Hotdog hat einen Co-Elternteil für sein Basiliskenkind gefunden, nämlich Sosrax, den ziegenhufigen Exfreund der Nymphe. Die ist jetzt mit der Meerjungfrau zusammen …
Mein mutiger Einsatz wurde auch entsprechend gewürdigt. Für die meisten Fabelwesen reicht diese Opferungsbereitschaft aber nur aus, um meine Schandtaten zu verzeihen. Ein Held werde ich also so bald nicht, doch es ist schon schön, wenn mir nicht mehr jeder den Graupelz über die Ohren ziehen will! Mehr verlange ich eigentlich nicht.
Jung-Marvin ist sogar noch leichter zufrieden zu stellen. Er hat sich als einer der ersten verabschiedet. Das waren ihm zu viele Leute hier, zu viele fremde Wesen. Ich habe ihm zunächst meine alte Wolfshöhle angeboten. Ein schöner Platz tief im Wald, viel Beute und noch mehr Ruhe. Doch er möchte lieber in eine Welt, die weniger chaotisch ist, was ich ebenfalls nachvollziehen kann. Dieses Chaos an Fabelwesen ist nicht für jeden etwas, auch nicht für mein altes Ich. Man muss sich daran gewöhnen.
Also habe ich Ifrit wieder um etwas Geschichtenstaub angehauen und meine Vergangenheit auf die Dämmerpfade geführt, die ihn in eine andere Schimmerwelt bringen werden, wo die Rehe nicht mit einem reden, sondern nur wegrennen. Ein Ort unberührter Wildnis, wo er Wolf sein kann.
Ob wir uns mal wiedersehen werden? Vermutlich schon, jedenfalls hat er versprochen, sich ab und zu zu melden.
Für den Spiegelwolf gibt es einen hübschen Grabstein, an dem wir Vergissmeinnicht pflanzen. Es ist merkwürdig, ein Grab für sein Spiegelbild zu machen. Wie sehr er wohl ich war? Wie sehr ein eigenes Wesen? Jedenfalls hat er sich im Kampf geopfert, um Clive zu stoppen, also verdient er es, dass man sich an ihn erinnert. Nach einer längeren Diskussion brennt Ifrit als Namen ‚Nivram‘ in den Stein.
Von ihm ist nichts geblieben. Das bedeutet hoffentlich, dass sein Tod schmerzlos war. Ich vermisse ihn nicht wirklich, dafür kannte ich ihn zu kurz, und ich bin auf eine gewisse Weise erleichtert, dass ich mich nur mit Vergangenheits-Marvin herumschlagen muss – doch nachdenklich stimmt mich das alles schon. Es geschieht nicht oft, dass man quasi sich selbst beerdigt!
Doch auch an den Gedanken werde ich mich noch gewöhnen.
„Was hast du jetzt vor?“, fragt Ifrit, als wir zu den letzten verbliebenen Kämpfern im Tal gehören.
„Ich denke … ich werde einen kleinen Urlaub machen“, sage ich nachdenklich. „Ein paar Wochen mal gar nichts tun. Immerhin ist gerade niemand mehr sauer auf mich – darum hätte ich mich sonst gekümmert. Und damit das so bleibt, sollte ich wohl einfach eine Weile untertauchen.“ Ich lache leise.
„Du übertreibst. Sooo schlimm bist du gar nicht.“
„Aber ich bin nun mal ein Fettnäpfchen-Stepptänzer. Und introvertiert. Ich will es einfach etwas langsamer angehen lassen.“
Das läuft dann allerdings am Ende darauf hinaus, dass ich mit Ceridwen zur Wikiothek zurückkehre, wo es weniger ruhig ist. Im Gegenteil, ich werde mit großem Hallo begrüßt. Nachdem ich Ceridwen während der Reise nur ein paar Schnipsel erzählt habe – die Keltin hat Rücksicht darauf genommen, dass ich mich etwas erholen musste, wofür ich sehr dankbar bin – muss ich meine Odyssee hier mehrmals durchkauen. Mit großen Augen verfolgen die vielen Wesen in den hellen Hallen meine Abenteuer.
Nach einer Weile taucht die Wikiothek selbst auf, diesmal in Gestalt eines Leopards, der Schriftzeichen statt Flecken trägt.
Ich entschuldige mich von der Gruppe und trotte zu ihr.
„Marvin. Du hast es also geschafft.“
„Jepp! Alles abgeliefert und dann meinen Auftraggeber getötet – so muss das wohl.“ Ich lache. „Aber er war ein Dämon. Er hätte die Welt vernichtet! Am einfachsten wäre es gewesen, ihm seine Zutaten gar nicht erst zu bringen … aber dann hätte ich meine Seele verloren, ich finde, die ist auch etwas wert.“
Die Wikiothek hat abgewartet, bis ich mit meinem Geblubber fertig bin. Sie weicht meinem Blick aus. „Hör mal … als du beim letzten Mal hier warst und ich dich hinausgeworfen habe … Dafür wollte ich mich entschuldigen. Ich habe dich im Stich gelassen, als du mich brauchtest.“
Ich lege ein Ohr an. „Du hattest schon recht. Ich hätte viel zu viel Zeit verloren. Es war gut gemeint!“
„Ja – aber gemeinsam hätten wir vielleicht schneller herausfinden können, was er plant. Sobald ich wusste, dass du als Nächstes Angst suchen musst, hat da was im Hinterkopf geklingelt. Aber bis ich den Beweis hatte, warst du weg.“ Sie seufzt. „Ich hatte nur dein Bestes im Sinn und wollte dir nicht schaden, aber im Nachhinein betrachtet …“
Ich hebe eine Pfote und winke ab. Ups – ich war in letzter Zeit definitiv zu viel unter Menschen. „Hör mal, ich habe viel Schlimmeres getan als du, und ich habe es auch gut gemeint. Jedenfalls meistens. Dennoch haben mir alle verziehen! Und das tue ich auch. Du bist eine gute Freundin, du wolltest mir nur helfen. Also, alles gut!“
Dann widme ich mich einigen spannenden Büchern, zu denen ich bei meinen letzten Besuchen nicht gekommen bin. Zwischendurch fordert die Wikiothek meine Zeit, denn ich muss ihr alles über Clive Hanger alias Miss Fortune alias Sir Prise erzählen, was ich weiß. Damit man den gefährlichen Dämon vermerken kann, nur für den Fall, dass er doch mal zurückkehrt. Und um Informationen zu sammeln, was das ist, was meine Freundin nun mal macht.
Irgendwann lenke ich sie ab, indem ich ihr vom Mondkalb erzähle. Das will sie unbedingt befragen, da es ein ganz isoliertes Leben geführt hat und man darum ganz viele wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen kann. Die Wikiothek beginnt, Forscher für mehrere Reisen zu suchen und ich freue mich, dass das einsame Kalb bald mehr Besuch bekommen wird.
Schließlich wage ich mich wieder in die Welt hinaus. Ich besuche Jung-Marvin für einen Abend, der sich weiterhin von Menschen fernhält. Er fürchtet sie. Vage erinnere ich mich, dass ich das auch mal getan habe. Das ist lange her. Unfassbar, wie sehr ich mich allein durch dieses Abenteuer verändert habe!
Ich gönne dem jüngeren Wolf sein friedliches Leben. Nachdem ich ihn vor ein paar Lebensentscheidungen gewarnt habe, ziehe ich schließlich weiter.
Irgendwie möchte ich die Welten erforschen. Meine Abenteuer haben mir so viel Neues gezeigt. Ich möchte mir das in Ruhe ansehen, ohne der Welt komplizierteste Einkaufsliste im Nacken. Immerhin stehen mir die Pfade der Dämmerwelt doch offen!
Früher hätte ich es nicht gewagt, einen unbekannten Pfad zu betreten. Doch ich denke, ich werde meinen Weg zurück schon immer finden. Was ich jedoch auf jeden Fall finde, nur wenig abseits der vertrauten Wege, könnten unfassbare Wunder sein. Sachen wie die Tausendfarbengrotte. Freunde wie Yeti, Gully oder den Gott der kreativen Beleidigungen. Geheimnisse, Wesen, Zauber, Magie …
Diese Odyssee hat mir gezeigt, dass ich viel mehr schaffen kann, als ich dachte. Und Jung-Marvin hat mir gezeigt, dass ich gewachsen bin. Es hat allerdings einen Dämon dafür gebraucht – aber ich bin auf dem Weg nur dreimal gestorben!