Capracandors Wut verstehe ich nicht. Er hat mich ja nicht einmal ausreden lassen! Ich wollte ihm wirklich nur helfen, gegen die ‚Braunen‘ nämlich, von denen ich gehört habe. Inzwischen erinnere ich mich wieder. Leider etwas zu spät …
Doch ich versuche, mich auf das Positive zu konzentrieren. Ich bin wieder fast Zuhause. Hier kenne ich mich aus. Da kann es doch nicht schwierig sein, ein wenig Angst zu finden.
Als erstes trotte ich zu dem Basiliskenhof. In der Nähe von solch einem Monster, denke ich mir, muss doch jemand Angst haben. Basilisken sind total gruselig! Ich schließe die Augen schon mehrere Meilen vor dem Hof und laufe in der Folge in mehrere Bäume hinein, was dummerweise den Nebeneffekt hat, dass diverse Zuschauer ihre generelle Angst vor Wölfen etwas verlieren.
Schließlich kann ich den Hof aber riechen. „Hallo? Hallo-o?“
„Wolf!“ Wütendes Gebell empfängt mich. „Wölfe haben hier nichts verloren!“
„Hallo, Hotdog.“ Ich seufze. „Ich will keine Nutztiere stehlen, ich suche nur jemand Verängstigtes.“
„Nun, du machst meiner Tochter jedenfalls Angst!“
Irgendwo zischelt etwas Großes bestätigend. Beinahe wäre ich drauf reingefallen und hätte die Augen geöffnet.
„Ich höre, dass sie in meiner Abwesenheit gewachsen ist. Hat sie kürzlich ein paar Dörfer terrorisiert?“
„Du jedenfalls wirst uns nicht weiter terrorisieren!“ Hotdog knurrt. „Du hast meine Menschen versteinert!“
„Ich – häh?!“ Ich mache die Augen doch auf. Zum Glück starre ich nur Hotdog an. Vom Basilisken sehe ich nur ein grünblau geschupptes Knie. „Ich habe deine Menschen doch nicht versteinert, das war d…“ Ich will auf den Basilisken deuten und stoppe mich im letzten Moment, ehe ich Hotdogs Tochter ansehe.
„Du bist hierher gekommen und seitdem sind die Menschen so!“, sagt Hotdog jedoch zornig. „Es muss deine Schuld sein!“
„Also …“ Ich will widersprechen, aber … war da nicht was von einem Schlangenei, das aufgrund eines falsch ausgesprochenen Wunsches in einem Hühnerstall gelandet ist? Im Endeffekt ist es vermutlich wirklich meine Schuld.
„Verschwinde hier!“, ruft Hotdog. „Oder ich werde dich beißen! Und sie auch!“
Nein, auf einen giftigen Basiliskenbiss kann ich verzichten. Ich drehe um. „In Ordnung. Ähm. Tut mir leid.“
So viel macht es mir gar nicht aus. Hotdog war eh merkwürdig. Und wer eine Basiliskin als Ziehtochter hat, ist eh seltsam!
Als nächstes marschiere ich zum Wichtelvolk. Die winzigen Wesen hatten damals echt Angst vor mir. Das ist ja eigentlich die offensichtlichste Wahl!
Ich packe meinen Becher also stolz und eile zum Fluss, dann am Ufer entlang, bis ich die Siedlung erreiche.
„He, Wichtel! Ich bin … ähm … Marvin der Rächer! Ich bin gekommen, um … ähh … all eure Erstgeborenen zu fressen!“
Ob ich es zu dick aufgetragen habe? Ich habe es zu dick aufgetragen.
„Eure erstgeborenen Kuchen, meine ich. Wobei, nicht die erstgeborenen: Alle Kuchen!“
Dann kommt mir eine gute Idee.
„Und Brotchips! Bringt all eure Brotchips, oder mein Zorn wird euch treffen!“
Ich heule übermütig, voller Freude auf mein neues Lieblingsessen.
„Bringt eure Brotchips! Bringt eure Brotchips! Oder ich werde eure Stadt vernichten!“
Schließlich öffne ich die Augen, um die Wirkung meines Auftritts zu begutachten. Zuerst sehe ich in die ausdruckslosen Gesichter mehrerer kleiner, menschenähnlicher Wesen, die im für sie kniehohen Moos aufgereiht stehen. Dann beuge ich den Kopf und spähe in den Becher, der an meiner Brust festgebunden ist.
Hm, der sieht noch leer aus. Was ist denn da los?
„Verschwinde, Wolf!“, ruft ein Männchen.
„Nur nach … Moment, das klang nicht verängstigt!“
Eine Eichel fliegt mir gegen den Kopf. „Ceridwen hat mit uns gesprochen! Wir wissen, dass du nichts Böses tun würdest. Nicht absichtlich!“, verkündet das Männchen. „Also lass das alberne Schauspiel und verschwinde!“
„Au.“ Verdutzt sehe ich die Wichtel an. Tatsächlich, keiner fürchtet sich. Sie sehen nur genervt bis wütend aus.
Wieso sind denn bloß alle wütend auf mich? Das wäre in Band Zwei sehr viel nützlicher gewesen!
Noch mehr Eicheln fliegen. Ich trete langsam den Rückzug an.
„Ganz genau! Ein total harmloser Grauwolf!“, ruft ein Wichtel triumphierend. „Ceridwen hatte recht, er tut keiner Fliege was!“
Ich überlege gerade ernsthaft, diese Einstellung zu ändern. Aber ich benötige Angst, kein Wichtelblut.
Ceridwen … Es ist schön, mal wieder von ihr zu hören. Ich glaube, zuletzt habe ich sie in der Wikiothek gesehen, aber auch mehr so im Vorbeirennen. Irgendwann muss ich ihr mal von meinen Abenteuern erzählen. Obwohl, wenigstens eines kennt sie nun schon: Das Missverständnis mit den Wichteln hat sie offenbar aufgeklärt. Nett von ihr, mieses Timing. Wenn sie sich nur etwas mehr Zeit damit gelassen hätte!
Ich atme tief durch und halte mich an mein Mantra. Am Ende werden wir über all das lachen. Am Ende wird alles gut sein.
Ich sehe zum Himmel. Dort zeigt sich der Nachmittag und ich zermartere mir den Kopf, wen ich nun noch erschrecken soll.
Den Stinthengst? Nein. Wovor fürchten sich magische Fische überhaupt? Den Drachen? Zwerge? Nichts davon erscheint mir machbar.
Ich trotte den Fluss entlang, während ich überlege, und stutze, als ich weiter unten im Tal etwas bemerke: Die Lichter eines fernen Dorfes am Fluss, die im Grauen des anbrechenden Abends aufflackern.
Ja, genau: Da ist der Vulkan, dort die Brücke und ich kann sogar den Platz mit dem Brunnen sehen.
Unfassbar! Das ist das Dorf mit dem Kürbiskopfreiter! Wie klein die Welt doch ist!
Dort hatten ja alle Angst vor irgendwas – da werde ich endlich etwas finden, mit dem ich den Becher füllen kann!
Ich trotte schneller. Es ist ein ordentliches Stück Weg. Während ich laufe, wird der Himmel dunkler, mehr und mehr Lampen entzündet. Dabei kann man doch noch prima sehen! Verstehe einer die Menschen. Doch, zugegeben, Lesen wird langsam etwas schwieriger. Na gut, eigentlich will ich nur nicht wahrhaben, wie spät es geworden ist, bis ich das Dorf erreicht habe.
Ich sehe mich suchend um. Na los, Ängstliche zu mir!